Menschengebundenes Wissen und Personalentwicklung: Know How-, Expertise- & Experience-Preservation (KEEP)

    21. Januar 2002 von Thomas Auer

    In der Antike war es eine menschengebundene Expertise und Erfahrung, die Sokrates an Platon weitergab. Seit Beginn der technischen Evolution ist der Wissenstransfer fast ausschließlich auf die Weitergabe des reinen Fakten-Know Hows beschränkt. Durch die Folgen von Fusionen und Restrukturierungen der 90-er Jahre wird das menschengebundene Wissen wieder als strategischer Erfolgsfaktor anerkannt. Gefragt sind somit auch für unterschiedlichste Unternehmensformen adaptierbare Verfahren, deren Konsequenzen für die bestehende Aufbau- und Ablauforganisation vertretbar sind. KEEP (Know How-, Expertise- & Experience-Preservation) ist eine solche Methode.

    Einführung

    Forschungsunterlagen, Produktionspläne, Rezepturen, Prozessbeschreibungen, Datenbanken und Schulungsprogramme haben etwas gemeinsam: Sie sind verbalisierbar und dienen der Sicherung und Verteilung des Fakten-Know How"s (Explizites Wissen). Nicht verbalisierbar ist das menschengebundene (implizite) Wissen: Es steckt in den Köpfen der Mitarbeitenden und kann nur durch Interaktion (d. h. von Mensch zu Mensch) transferiert werden.

    Beide Wissenskategorien gehören zu den Schlüsselfaktoren für den strategischen Unternehmenserfolg, sind jedoch aus verschiedenen Gründen verlustbedroht. Einerseits verkleinert die technische Evolution die Halbwertzeit des expliten Wissens: Was heute als Standard gilt, ist in wenigen Jahren veraltet. Andererseits bewirken Abgänge von Wissensträgern den Verlust des impliziten Wissens; die anziehende Konjunktur erhöht die Fluktuationsraten, während die demografische Entwicklung (Pillenknick ) die Personalbedarfsdeckung zusätzlich erschwert. Ausserdem steuern die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegsgeneration der Pensionierung zu, was zu einem überproportionalen Abgang von Wissensträgern führt. Der strategischen Unternehmensführung stellen sich folglich auch diese zwei Herausforderungen:

    • Das menschengebundene Wissen zu sichern resp. rechtzeitig zu transferieren
    • Die Arbeitsplatzattraktivität zu fördern und dies auch zu kommunizieren

    Warum nicht vernetzen?

    Viele multinationale Unternehmen begegnen den oben aufgeführten Symptomen mit spezifischen Verfahren. Benchmarking, Balanced Score Card, Yellow Pages und Intranet sind die populärsten Methoden zur Identifikation und Sicherung des unternehmensspezifischen Wissens. Coaching, Karrierepläne und immaterielle Anreizsysteme unterstützen die Personalentwicklung und -bindung. KMU"s und mittelgrosse Unternnehmen können jedoch die dafür notwendigen Ressourcen kaum bereitstellen.

    Gefragt sind somit auch für unterschiedlichste Unternehmensformen adaptierbare Verfahren, deren Konsequenzen für die bestehende Aufbau- und Ablauforganisation vertretbar sind. KEEP (Know How-, Expertise- & Experience-Preservation) ist eine solche Methode (vgl. Grafik).

    Grafik 1: Das KEEP-Prozessmodell

    Das Prozessmodell vernetzt die Sicherung des menschengebundenen Wissens mit den Anforderungen der strategischen Personalentwicklung: Erfahrene Mitarbeiter (Senior-KEEP-Mitglieder) stehen in einer Wechselbeziehung zu intern und extern ausgewählten Nachwuchskräften (Junior-KEEP-Mitglieder). Durch den Austausch des menschengebundenen Wissens und aktuellstem Know How sowie einer zusätzlichen Arbeitsqualität profitieren alle Beteiligte, vor allem jedoch die Organisation. Das KEEP-Engagement (Dauer und Arbeitszeitanteil) wird situativ dem vereinbarten Projektziel angepasst. Für die Integration in die Ablauf- bzw. Aufbauorganisation gelten die folgenden Regeln:

    • Die Projektziele werden von allen Beteiligten gemeinsam im Sinne eines MbO formuliert
    • Der direkte Vorgesetzte des Junior-Mitglieds überwacht und koordiniert den Projektablauf
    • Das Junior-Mitglied rapportiert an seinen direkten Linien-Vorgesetzten
    • Das Senior-Mitglied hat keine direktive Befehlsmacht gegenüber dem Junior

    Ein systematisierter Usus als Prozessmodell

    Das beschriebene Prozessmodell erweckt prima vista den Eindruck eines Verfahrens, das oft für neu eintretende Mitarbeitende eingesetzt wird. KEEP unterscheidet sich jedoch von klassischen Einarbeitungsplänen durch eine systematische und projektbezogene Prozess-Integration in die Aufbau- bzw. Ablauforganisation. Dabei nimmt das Senior-Mitglied eine Funktion als Mentor/Coach ein und steht nicht in Linienverbindung zum Junior-Mitglied. Oberstes Ziel ist die Sicherung des menschengebundenen Wissens (Expertise & Erfahrung) im Unternehmen. Der kritische Punkt ist dabei die Auswahl der Senior-Mitglieder. Diese sind als langjährige Mitarbeitende mit der Personalpolitik des Unternehmens vertraut und können nicht mit konventionellen Verfahren selektioniert werden. Sie werden als Wissensträger aus dem bestehenden Personal identifiziert, wobei die hierarchische Funktion und das Alter eine untergeordnete Rolle spielen. Ihre Selektion erfolgt durch eine Technik, welche die Erfüllung von Rahmenbedingungen voraussetzt, auf eine Beurteilung von Apriori-Merkmalen verzichtet und die persönlichkeitsbezogenen Kriterien stark gewichtet.

    Wissenssicherung in der Praxis

    Wie bei jeder Prozess-Implementierung ist erst einmal ein Projekt-Management notwendig, das nach dem bekannten Muster "Situationsanalyse > Ziele setzen > Massnahmen bestimmen > Ressourcen freigeben > Massnahmen durchführen" abläuft.

    Grafik 2: Vom Projekt zum Prozess

    Das Projekt ist abgeschlossen, wenn das Prozessmodell mit einer kybernetischen Eigendynamik "Zielsetzung > Ressourcen > Maßnahmen > Bewertung > Zielsetzung" funktioniert.

    Mehr noch als bei Business- und Managementplänen hängt der Erfolg von einer seriösen Bestandesaufnahme ab, weil in den wenigsten Organisationen transparent ist, welches die wichtigen Wissensbestände und wo oder wer die Wissensträger sind. Von letzteren wird neben einer hohen Loyalität auch eine ausgewiesene Sozialkompetenz vorausgesetzt, womit das Human Resources Management (speziell die Personalentwicklung) gefordert ist.

    Auch die Existenz einer wissensorientierten Unternehmenskultur ist entscheidend: Der Wissenstransfer versucht ja nichts weniger, als Wissen vom Individuum zu lösen. Die effektive Herausforderung ist darum nicht die Steuerung des Wissenstransfers an sich, sondern bestehende Barrieren und Zielkonflikte abzubauen. Und dies ist wiederum nur mit einer offenen und fairen Projektkommunikation erreichbar.

    Fallstudie 1: Potentieller Wissensverlust durch bevorstehende Pensionierung

    René Kaufmann, 64-jährig, gilt als graue Eminenz beim Familienunternehmen Müller GmbH. Als junger Betriebswirtschafter trat er 1962 in der Funktion eines Assistenten der Geschäftsleitung in das Unternehmen ein. Diese Stabsfunktion ist ihm erhalten geblieben, eine eigentliche Führungsposition hatte er nie inne. Bei Problemen, die nicht mehr nur mit pragmatischem Denken gelöst werden können, ist er aufgrund seiner immensen Erfahrung als Ratgeber und Informationsquelle im ganzen Unternehmen geschätzt. Immer wieder liess der vitale Kaufmann durchblicken, wie sehr ihn die bevorstehende Pensionierung beschäftigt. Die Geschäftsleitung realisierte, welches Kapital an Expertise und Erfahrung in Kürze nicht mehr verfügbar sein wird. Sie beurteilte Kaufmann als geeignet für die Mitarbeit im KEEP-Projekt und generierte damit eine echte Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Kaufmann engagiert sich anfangs zu 25% im KEEP-Projekt, wobei er sein operatives Engagement sukzessive reduziert, um in einigen Jahren nach einem sanften Ausstieg den Ruhestand anzutreten.
    Die Nachwuchskräfte, die Kaufmann bei Projekten als Mentor/Coach in der Projektarbeit begleitet, profitieren von dessen unternehmensspezifischen Kenntnissen. Die Müller GmbH profitiert in doppelter Hinsicht: Einerseits sichert sie mit diesem Vorgehen den Transfer der wohl wichtigsten Ressource; andererseits bietet Sie mit diesem Arbeitsmodell intrinsische Anreize, die sich als gestärkte Motivation und Loyalität seitens Kaufmann auszahlen.

    Grafik 3

    Diese Fallstudie projiziert, was uns die eingangs erwähnte demografische Entwicklung bescheren kann: Unter den geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen gibt es viele "Kaufmann"s", deren implizites Wissen am letzten Arbeitstag unwiderruflich verschwinden wird. KEEP-Senioren-Mitglieder werden jedoch unabhängig Ihres Alters und Ihrer hierarchischen Stellung ausgewählt; entscheidend ist deren Status als Wissensträger und eine ausgewiesene Sozialkompetenz, wie eine weitere Fallstudie belegt:

    Fallstudie 2: Personalentwicklung im Kontext mit der Wissenssicherung

    Fritz Strähle, 52-jährig, ist nach einer technischen Berufslehre in das Unternehmen Normatech eingetreten. Normatech AG ist ein etablierter Anbieter von mechanischen Baugruppen, die sich durch ein antistatisches Verhalten auszeichnen. Strähle profilierte sich bald einmal als Spezialist für Einzelanfertigungen nach Kundenwünschen. Nach einer kommerziellen Weiterbildung durchlief Strähle den klassischen Werdegang eines technischen Kaufmanns, bis er vor 5 Jahren zum Key-Account-Manager befördert wurde. Strähle ist eine Frohnatur und ignorierte den periodisch auftretenden Schmerz im Brustbein. Im Anschluss an eine Bypass-Operation empfahlen ihm die ärzte, das Arbeitspensum um 50% zu reduzieren und weniger zu reisen. Strähle bewarb sich darauf als Senior-KEEP-Mitglied und wurde als Idealbesetzung beurteilt. Die Hälfte seines Arbeitspensums widmet Strähle fortan dem KEEP-Projekt. In seinem angestammten Arbeitsgebiet betreut er in reduziertem Umfang weiterhin wichtige Kunden. Seine gewonnenen Erkenntnisse, Erfahrung und Expertise lässt er im KEEP-Engagement bei jungen Entwicklungsingenieuren einfliessen.

    Grafik 4

    Diskussion:

    Wissensmanagement-Systeme sind heute für den strategischen Unternehmenserfolg ebenso unbestritten wichtig wie gezielte Personalentwicklungs-Massnahmen. Diese Prozeduren haben jedoch den Nachteil, dass der resultierende Erfolg kurzfristig quantitativ nicht erfasst werden kann. Daher ist die unbedingte Identifikation aller Beteiligten, insbesondere des Managements, notwendig. Schlüsselfaktoren für den Erfolg des KEEP-Modells sind eine transparente Kommunikation im Unternehmen, die sorgfältige und faire Auswahl der Mitglieder, eine kompetente Projektleitung sowie die strategische Projekt-Ausrichtung.

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