Plädoyer für eine andere Sicht auf den Begriff "Wissen"

    13. April 2009 von Wolfram Schäfer

    Um von vornherein zwei Missverständnissen vorzubeugen: Der Begriff Wissens-Management ist in einem solchen Maße etabliert, daß er nicht einfach weg zu diskutieren ist, ob er mir nun gefällt oder nicht. Und eine GfWM hat ihren Namen unter anderem mit Bezug zu eben jenem Begriff und der Name ist inzwischen historisch gefestigt, ob es mir nun gefällt oder nicht. Aber hier geht es um unser verdrehtes Denken, mit dem wir uns reichlich selbst im Weg stehen.

    Dieser Beitrag erschien im Newsletter der Gesellschaft für Wissensmanagement 1/2009.

    Seit den 90iger Jahren steht das Thema Wissens-Management im Raum, mit Nonaka und Takeuchi begann das Thema ins allgemeine Bewusstsein zu rücken und hat seit dem eine Reihe von Wendungen, Modifikationen, Interpretationen et cetera erfahren. Und wie in allen Themen Bereichen gab es die Hochs und die Tiefs. Beim Wissens-Management kam der Hype mit dem Aufkommen erster IT basierter Systeme zur Unterstützung des Wissens-Managements, basierend auf speziellen Daten Banken, Collaborative Systems, Portalen und vielen anderen Technologien. Um das ganze zu fundieren hat man sich natürlich auch mit den Methoden des Wissens-Managements auseinander zu setzen, wie das zum Beispiel Probst, Raub, Romhardt taten. Deren Verdienst bestand vor allem in einer Systematisierung, welche sich in Begriffen wie Wissensziele - Wissensidentifikation - Wissenserwerb - Wissensentwicklung - Wissensverteilung - Wissensnutzung - Wissensbewahrung - Wissensbewertung / -messung spiegelt. In meinen Ohren klingen diese Begriffe schlicht merkwürdig, viel sinnhaltiger jedoch, wenn "Wissen" durch "Information" ersetzt wird: Informationsziele - Informationsidentifikation - Informationserwerb - Informationsentwicklung - Informationsverteilung - Informationsnutzung - Informationsbewahrung - Informationsbewertung / -messung. Aber das ist natürlich mein ganz subjektiver Eindruck.

    Ist explizites Wissen Information?

    Im nächsten Schritt sind dann Namen wie z.B. Norbert Gronau, Holger Nohr, Andreas Abecker, Peter Heisig verbunden mit einer Sicht durch die Wissens-Management Brille auf die Prozesse. Da gibt es plötzlich "Wissens- Management Prozesse" oder den "wissensbasierten Gestaltungsprozeß von Geschäftsprozessen" oder das "geschäftsprozessorientierte Wissens-Management" bei dem "Wissensprozesse angebunden werden an Geschäftsprozesse". Da beschleicht mich dann schon ein ganz ungutes Gefühl!

    Auch nicht uninteressant ist die Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen. Selbst wenn man sich dieser Begrifflichkeit mit einer positiven Grundhaltung nähert, ist dann nicht explizites Wissen nichts anderes als Information? Etwas, das systematisiert, kategorisiert, quantifiziert und zu Papier gebracht ist? Wir kommen unweigerlich zu der Diskussion des Unterschieds zwischen Information und Wissen.

    Bevor wir uns diesem Teil des Themas nähern, wollen wir uns aber einem ganz anderen Begriff widmen - dem des Managements. Im amerikanischen Unternehmensalltag ist der Begriff des Managers in etwa zu vergleichen mit dem deutschen Begriff des Sachbearbeiters. Um hier innerhalb der Unternehmens-Hierarchie unterscheiden zu können, wird in amerikanischen Unternehmen vom Team Manager oder Group Manager gesprochen, es gibt das so genannte Middle Management, das C-Level- Management und den Officer. Im deutschen Sprachgebrauch gibt es das Mittlere Management, das gehobene Management oder einfach den Manager. Der Manager ist im deutschen Sprachraum meistens per se eine Führungskraft. Dies alles einmal beiseite gelassen:

    Was macht ein Manager eigentlich?

    Wikipedia antwortet: "Ein Manager ist eine Führungskraft in einem wirtschaftlichen Unternehmen. Betriebswirtschaftlich leitet und verantwortet er Geschäfte, Finanzen, Personalwesen und Planungen einer wirtschaftlichen Organisation". Übersetzen wir das ein Mal etwas freier:

    Ein Manager arbeitet auf ein von anderen vorgegebenes oder selbst gestecktes Ziel hin, indem er Entscheidungs- und Handlungs-Spielräume nutzt. Diese Entscheidungs- und Handlungs-Spielräume sind durch seine Kompetenzen vorbestimmt und beziehen sich auf den Ziel orientierten Einsatz von Ressourcen, welche entweder unmittelbar eingesetzt werden können oder zunächst beschafft werden müssen, um dann im zweiten Schritt zum Einsatz zu kommen. In noch ein Mal anderen Worten und kürzer: Ein Manager managt, in dem er über den Einsatz von Ressourcen entscheidet. Nach meinem Verständnis trifft das den Kern!

    So gesehen ist beispielsweise der Begriff des Projekt Managers ein Nonsens. Das Projekt an sich ist keine Ressource und kann in so fern auch nicht gemanagt werden. Allerdings hat sich hier ein Verständnis des Begriffs heraus gebildet, welches in etwa so gefasst werden kann: Ein Projekt Manager managt Ressourcen, in dem er über deren Einsatz in einer Weise entscheidet, welche dem Projekt Ziel dient.

    Versuchen wir es ein Mal mit dem Qualitäts-Manager (auch Qualität an sich ist keine Ressource): Ein Qualitäts-Manager managt Ressourcen, in dem er über deren Einsatz in einer Weise entscheidet, welche einem gegebenen Qualitäts-Anspruch dient. Das geht auch.

    Jetzt Wissens-Management: Ein Wissens-Manager managt Ressourcen, in dem er über deren Einsatz in einer Weise entscheidet, welche dem Wissens-Erwerb (-Erhalt, -Erweiterung, -...) dient. Hier wird’s jetzt schwierig!

    Die Ressource "Wissen"?

    Nehmen wir ein Mal an Wissen sei eine Ressource (ein erheblicher Teil der Literatur geht genau davon aus!). Verkörpert wird dieses Verständnis unter anderem und sehr anschaulich in dem Ausspruch: "Wissen ist die einzige Ressource, welche sich bei Gebrauch nicht verbraucht, sondern vermehrt". Auf den ersten Blick eine sehr griffige Formulierung. Fragen wir weiter: Was lässt sich mit Ressourcen anstellen? Nun, man kann sie beschaffen, ver- oder gebrauchen, zum Einsatz bringen, dabei Zeit und Menge des Einsatzes bestimmen et cetera. Die klassische Diskussion geht bei dem Begriff der Ressource von Arbeit, Boden und Kapital aus. Kapital lässt sich dabei unterteilen in Geld, Gebäude, Maschinen. Und eben auch Informationen (man kann sie beschaffen, veräußern, gebrauchen, zum Einsatz bringen, ...). Wie passt da der Begriff "Wissen" hinein? Meines Erachtens gar nicht!

    Während des Wissens-Management Hypes - also in jener Zeit, in der jede Datenbank in ein Wissens-Management Tool uminterpretiert wurde - hatte jeder Lösungs-Anbieter seinen eigenen Marketing Slogan. Einer davon hieß: "Wissen ist verstandene Information". Der betreffende Lösungs- Anbieter hat wahrscheinlich bis heute nicht begriffen, wie sehr er den Nagel auf den Kopf getroffen hat!

    Wissen ist verstandene Information! Lassen Sie das mal im Hirn kreisen. Wissen ist verstandene Information - Wissen ist verstandene Information - Wissen ist verstandene Information - ...

    Ziehen wir Wikipedia zu Rate: "Verstehen ist das inhaltliche Begreifen eines Sachverhalts, das nicht in der bloßen Kenntnisnahme besteht, sondern in der intellektuellen Erfassung des Zusammenhangs, in dem der Sachverhalt steht." Und: "Verstehen im obigen Sinn und als Interpretation setzt Intelligenz bzw. Geist voraus. Nach Werner Sombart beruht das Verstehen auf der Identität des Menschengeistes. Es ist also nur aufgrund der prinzipiellen Identität von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt möglich."

    Das ist ja, was ich sagen will: Wissen ist verstandene Information!

    Ein Beispiel muß her: Der 24.11.1999 ist ein Datum (wie Sie vielleicht bemerken, bewegen wir uns am unteren Ende von Prof. Norths "Wissens- Treppe"). Es ist zunächst irgend ein Datum. Wenn ich Ihnen zusätzlich verrate, daß mein Sohn an diesem Tag geboren wurde, dann ist dieses Datum mit Bedeutung versehen. Jedenfalls für mich und alle, die unterscheiden zwischen Menschen mit Kindern und solchen ohne - aus welchem Grund auch immer. Es ergeben sich z.B. die Informationen, daß der Autor mindestens ein Kind hat. Zusätzlich, daß dieses Kind neun Jahre alt, im deutschen Kultur Raum also schulpflichtig ist und männlichen Geschlechts (auf der "Wissens-Treppe" bewegen wir auf der nächsten Stufe - das Datum wurde mit "Bedeutung" versehen - wir reden über Information). Nun bedarf es nur noch eines weiteren Stichworts und wir erreichen die nächste Stufe - Wissen. Das Stichwort heißt beispielsweise "Geburtstag". Zumindest jene, die Kinder haben, "verstehen" was ich meine - in anderen Worten: "Begreifen", was am 24.11.2009 los sein wird - in anderen Worten: "Können nachvollziehen", was kindliche Aufregung bedeuten kann - in anderen Worten: "Wissen", daß Geschenke dazu gehören ..., beliebig fortsetzbar.

    Wie wollen Sie dieses Wissen managen?

    Gesetzt den Fall, wir wären am 24.11.2008 in einem Debriefing interviewt worden um Wissen explizit zu machen, welches mit dem Stichwort Geburtstag verbunden ist, so hätten sich sicherlich einige Informationen zusammen gefunden, welche man hätte dokumentieren können: Ablauf der Feier, Zahl und Namen der Gäste, Menge der gegessenen Stücke Kuchen, Liste der Geschenke et cetera. Am Ende hätten wir eine Menge Informationen über den Geburtstag meines Sohnes im vergangenen Jahr gesammelt. Aber hätten wir damit den gesamten qualitativen Gehalt des Begriffs Geburtstag, erlebt durch ein Kind, erfasst? Ich meine, wir wären auf der "Wissens-Treppe" wieder eine Stufe hinunter gestiegen!

    Wissen ist mehr als die Summe aller Informationen

    Wenn wir eine Maschine vor uns sehen, welche eine bestimmte Menge Teile in einer vorher definierten Zeit innerhalb einer Toleranz Bandbreite von 0,01 mm stanzt, haben wir dann diese Maschine in ihrer ganzen Qualität erfasst? Nehmen wir noch die Stückliste hinzu, die Technische Zeichnung und die Arbeitspläne, welche zur Fertigung der Maschine herangezogen wurden, die genaue Anforderungs-Beschreibung des Kunden, für den diese Maschine gefertigt wurde - haben wir dann die Maschine verstanden? "Wissen" wir also, wie wir eine zweite Maschine gleicher Bauart zu fertigen hätten?

    Kommt drauf an: Ein Maschinenbauer kann die oben erwähnten Informationen vor dem Hintergrund seiner (!) Erfahrung sicher so einordnen - interpretieren - verstehen - intellektuell erfassen, daß eine Kopie der ersten Maschine entsteht, zumal dann, wenn er die erste Maschine selbst gebaut hat. Warum aber kann das der Arzt, Pädagoge, Lokführer, Architekt, Polizist, Dachdecker nicht, auch nicht, wenn ihm alle Informationen zur Verfügung gestellt werden?

    Um es kurz zu machen: Weil Wissen eben mehr als die Summe aller Informationen ist! Dem Verstehen geht Lernen voraus. Lernen ist ein zutiefst emotionaler Prozeß. Der Volksmund weiß, daß Lernen äußerst schmerzhaft sein kann (jeder Fehlversuch ist in gewisser Weise schmerzhaft). Wir wissen aber auch, daß Lernen lustvoll und befriedigend sein kann (z.B. das Erfolgserlebnis, die Erfahrung der Neugierde, ...). Lernen führt zu Wissen. Und um noch ein Mal den Volksmund zu zitieren: "Erfahrung kann man nicht vermitteln, man muß sie (selbst) machen".

    Und die GfWM?

    Vor dem Hintergrund eines solchen qualitativen Verständnisses des Begriffs Wissen und dessen, was wir weiter oben zum Thema Management ausgeführt haben, führt das Begriffspaar Wissens-Management zu nichts anderem als Kopfschmerzen. In Fortführung dieser absurden Logik könnt man GfWM übersetzen als "Gesellschaft für das Management der Ressource Wissen". Angesichts der geradezu unglaublichen thematischen Vielfalt und Breite der Vorträge, welche auf den Stammtischen in den vergangenen Jahren zu hören waren, der Diskussionen, welche diese Vorträge nach sich zogen wie auch der vielfältigen Herkunft der Stammtisch-Besucher und GfWM-Mitglieder wäre eine solche Übersetzung von GfWM eine schmerzhafte Einengung des Gegenstands des Interesses. Begreifen wir jedoch das "M" in GfWM als eine bislang unreflektierte Entgleisung unseres Verstandes, ergäbe sich die Chance zur Fortentwicklung der GfWM auf inhaltlicher Ebene, wie sie in diversen Ansätzen zur "Lernenden Organisation" im Grunde bereits gestartet ist. Übrigens auch unter Einbeziehung von sehr viel mehr Menschen als bislang.

    Arbeit und Wissen

    Wird nämlich Wissen als ein Attribut, eine Eigenschaft, eine Qualität, eine Dimension der Ressource Arbeit verstanden, erhalten wir einen ganz neuen Zugang zur menschlichen Arbeitskraft als solcher, gewinnt der Begriff Qualifikation einen neuen Stellenwert und schaffen wir uns ein Bild von einem Unternehmen (oder einer anderen organisationalen Einheit) als lernendem Organismus, bei dem die Entfernung jeder einzelnen Arbeitskraft - zwar in unterschiedlichem Ausmaß, aber dennoch - zu einem Verlust an relevantem Wissen führt! Die Art und Weise des Wirt schaftens an sich spiegelt unser Wissen über wirtschaftliche Zusammenhänge wieder. In unserem Wissen liegt das Potential zu nachhaltigerem und langfristigerem Denken. Wer aber nur und ausschließlich in den Kategorien Kosten und Ertrag denkt und das möglichst im Monats- oder Quartals-Rhythmus, wird freilich die Stufe des Wissens nicht erreichen und auf der Stufe der Information verharren. Genau so wenig wird er durchdringen, was es eigentlich heißt, wenn eine Unternehmensleitung sagt (und dies nicht nur als hohle Phrase): "Unsere Mitarbeiter sind unsere wichtigste Stütze."

    Für die GfWM jedenfalls eröffnet sich bei einem Verständnis von Wissen wie oben kurz skizziert ein Weg, sich von anderen abzusetzen, welche den Begriff "Wissens-Management" auf ihren Fahnen tragen (und allen Ernstes "Wissens-Prozesse" in Unternehmen implementieren wollen, um dort die "Wissens-Ressourcen" optimal einzusetzen). Und damit ein (!) möglicher Weg, die Strategie Diskussion konsequent fort zu führen mit dem Ziel eine Antwort zu finden auf die Frage: Wie machen wir die GfWM so einzigartig, daß die Mitglieder sich mit dem Herzen zu ihr bekennen?

    Ein Teil der Antwort steht bereits klar im Raum: Die Akzeptanz und Verdeutlichung der ganzen Breite und Vielfalt, welche in dem Kontext Lernen - Verstehen - Begreifen - Durchdringen - Erfahren - Wissen steckt!

    Einzigartigkeit - Unsere Zukunft

    Den anderen Teil der Antwort - die Beschreibung des Weges nämlich, über den unser Wissen auf individueller, wirtschaftlicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene nutzbar werden kann - kennen wir auch, wir sehen ihn aber offenbar noch nicht. Dafür fehlt uns noch der richtige Blick. Ganz nach Prof. Norths Wissens-Treppe: Wenn wir Wissen in Bezug setzen zu einer Anwendung, gelangen wir auf die nächste Treppen Stufe: Können. Und erst wenn wir Können verbinden mit Wollen, kommen wir zum Handeln. Richtiges Handeln führt uns in jene Regionen, welche Kompetenz genannt werden. Wenn wir unsere Kompetenz mit Einzigartigkeit verbinden, ergibt sich Wettbewerbsfähigkeit. Und wettbewerbsfähig will die GfWM doch werden, wofür sonst die mühevolle Strategiediskussion?

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