Wissensmanagement-Visionäre: Trends und Strategien

    12. Dezember 2011 von Ingo Frost, Kathrin Frank

    Die Autoren dieses Artikels gehen der Frage nach, wie Organisationen im Jahr 2020 mit Wissen umgehen werden. Dazu haben sie in einem ersten Schritt nationale und internationale Wissensmanagementkonferenzen, Publikationen und Internetveröffentlichungen analysiert, um Wissensmanagement-Visionäre aufzufinden. Dabei sind vier Visionäre aufgrund Ihrer Keynotes und ihrer Veröffentlichungen zu Wissensmanagement-Trends aufgefallen: David Griffiths, Dave Snowden, David Gurteen und Norbert Gronau. Sie werden hier zusammen mit ihren Thesen und Visionen zum Umgang mit Wissen vorgestellt. Am Ende werden diese Thesen gegenübergestellt und diskutiert.

    Auswahlprozess

    Wie findet man die interessanten Thesen darüber, wie sich Wissensmanagement entwickeln könnte? Ein Weg, dieser Frage näher zu kommen, besteht darin, Wissensmanagement-konferenzen zu untersuchen und herauszufinden, wer die Keynotes zu Wissensmanagement-Entwicklungen gehalten hat. Dazu wurden von national und international bedeutsamen Wissensmanagementkonferenzen die Keynotes aus den Jahren 2010 und 2011 betrachtet. Von den 105 Keynotes haben 10 Autoren explizit Wissensmanagement-Trends angesprochen.  Die Arbeit dieser Autoren wurde im zweiten Schritt auf weitere wissenschaftliche Publikationen zu dem Thema sowie auf ihre Wechselwirkungen mit der Internet-Community (z.B. Aktivität in Blogs, Newsletter etc.) untersucht. Dabei sind die vier oben benannten Personen besonders aufgefallen, die je aus etwas anderen Perspektiven am Thema Wissensmanagement forschen und im beruflichen Alltag andere dabei unterstützen, Wissensmanagement in der Praxis umzusetzen.

    David Griffiths

    David Griffiths lehrt an der Universität Edinburgh im Bereich Management von Lernen und Wissen und ist Gründer der Wissensmanagement-Beratung K3Cubed Limited. Er hat sich darauf spezialisiert, Organisationen im Umgang mit Wissen und Lernen zu unterstützen, darüber Vorträge zu halten und in dem Themenbereich zu publizieren.
    In der Lehre befasst er sich auch mit angrenzenden Themen rund um Organisationen, Finanzen und Produktionsmanagement.

    Visionen - Thesen über Wissensmanagement-Trends

    • Wissensmanagement wird laut einer internationalen Studie immer noch in erster Linie technikzentriert und eher operativ verstanden; und stellt noch immer nicht den Menschen in den Mittelpunkt. Das ist die Ursache dafür, dass eine hohe Unzufriedenheit mit Wissensmanagementinvestitionen besteht. 
    • Wer Organisationen im Umgang mit Wissen unterstützen möchte, sollte auf den technisch vorbelasteten Begriff Wissensmanagement verzichten. Organisationen erkennen für sich andere Herausforderungen als technisches Wissensmanagement.
    • Wissensmanagement sollte als strategisches Thema wahrgenommen werden und Organisationen bei ihren aktuellen Herausforderungen, wie Innovationsfähigkeit, Resilienz, Nachhaltigkeit oder Wachstum (bzw. gar "gesund schrumpfen") unterstützen.
    • Wissensmanagement sollte das Herzstück vom Aufbau der Wandlungsfähigkeit sein. Dadurch kann das vorwärtstreibende Denken angeregt werden und Methoden wie die Szenarioanalyse können zum Zug kommen.
    • Wissensmanagement kann nötige bevorstehende Paradigmenwechsel in Organisationen vorantreiben.
    • Die Rolle von Wissen in Organisationen steigt seit den 30er Jahren kontinuierlich (die Bedeutung von immateriellen Ressourcen in Organisationen wuchs seitdem von 30-40% auf bis zu 90% bei IT-Unternehmen wie Google). Unter Berücksichtigung des langfristigen Trends kann Wissensmanagement als Langzeitaufgabe definiert werden[1].

    Dave Snowden

    David John Snowden ist Experte für implizites Wissen und arbeitet als Dozent, Berater und Wissenschaftler. Er ist Gastdozent an der Universität Pretoria, Universität Canberra, Universität Surrey und an der Polytechnischen Universität Hong Kong. Zusätzlich ist Dave Snowden Gründer und wissenschaftlicher Vorstand der Organisationsberatung Cognitive Edge, die einen Open Source-Ansatz in der Beratung verfolgt: Verwendete Materialien und Methoden sind über die Webseite frei zugänglich. Er hat das Cynefin-Framework entwickelt, das die praktische Anwendung der Komplexitätstheorie auf das Thema Führung von Organisationen überträgt. 

    Im Rahmen des Cynefin-Frameworks werden Probleme nach ihrer Art klassifiziert und ein entsprechender Umgang mit ihnen vorgeschlagen:

    • Einfache Probleme basieren auf klaren Ursache-Wirkungs-Beziehungen: Wenn eine bestimmte Ausgangssituation beobachtet wird, kann auf Grund von Erfahrungen (“Best Practices”) eine angemessene Reaktion stattfinden.
    • Bei komplizierten Problemen müssen Ausgangssituationen intensiver analysiert werden, bevor darauf reagiert werden kann. Dabei gibt es häufig verschiedene Arten zu reagieren, die ähnlich gut sind (“Good Practices”).
    • Komplexe Fragestellungen werden dadurch charakterisiert, dass aufgrund einer Ausgangssituation die Wirkung bestimmter Maßnahmen nicht vorhersehbar ist. Somit wird als Handlungsempfehlung eine experimentelle Herangehensweise (“ausprobieren, wahrnehmen, reagieren”) vorgeschlagen (“Emergent Practices”).
    • Chaotische Problemstellungen sind so geartet, dass gar keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufgestellt werden können. Somit ist die Handlungsempfehlung agieren, wahrnehmen, reagieren mit dem Ziel, das System zu stabilisieren. Dabei entstehen Erfahrungen im Sinne einer “Novel Practice”.

    Visionen - Thesen über Wissensmanagement-Trends

    • Im Kontext von Organisationen sollten robuste von stabilen Strategien unterschieden werden: Robustes Design (fail save = sturzsicher) sollte zu stabilem und somit krisenresistentem Design (save-fail experimentation = sicheres Stürzen üben) werden.
    • Der Umgang mit Wissen ist immer freiwillig und kann nie verordnet werden.
    • Wir wissen immer nur das, was wir an Wissen benötigen. Wir reagieren auf wahrgenommene Muster (pattern based intelligences) und sind keine Informationsverarbeiter (information processors).
    • Wenn ein echtes Bedürfnis nach Wissen besteht, werden nur sehr wenige Menschen sich weigern, ihr Wissen zu teilen.
    • Toleriertes Scheitern prägt den Lernprozess besser als Erfolg: Organisationen sollten Scheitern in einem bestimmten Rahmen zulassen.
    • Über unser Wissen sprechen ist etwas anderes als unser Wissen selbst.
    • Wir wissen mehr als wir in Worte fassen können und wir erzählen immer mehr als wir niederschreiben können.
    • Alles ist fragmentiert, Menschen erstreben chaotischen Zusammenhang (messy coherence) und eben nicht zuviel Struktur, da diese schnell veraltet und aufwändig zu pflegen ist. Somit ist auch der Ansatz Semantisches Web – also eine eindeutige, strukturierte Beschreibung von Bedeutung von Internetinhalten - begrenzt. [2]

    David Gurteen

    David Gurteen war lange Zeit Manager der Softwareentwicklung und war bei Lotus Development für die Sicherstellung eines global einheitlichen Designs der Lotus Produkte verantwortlich.
    Heute ist er unabhängiger Wissensmanagement-Berater, Redner und Moderator. Er ist in den verschiedensten Bereichen des Knowledge Managements präsent und organisiert regelmäßig Knowledge Cafés. Er veröffentlicht in seinem Blog (The Gurteen Knowledge Weblog) und auf seiner Webseite (The Gurteen Knowledge Website) und erreicht mit seinem Newsletter (The Gurteen Knowledge Letter) ca. 15.000 Personen.

    Visionen - Thesen über Wissensmanagement-Trends

    1. Das Teilen von Wissen und soziales Lernen - jetzt noch als zusätzliche Arbeit empfunden - wird ein willkommener und normaler Bestandteil der alltäglichen Arbeit. Zukünftig grübeln Mitarbeiter nicht mehr allein im stillen Kämmerlein, sondern denken laut und gemeinsam mit anderen nach.
    2. Auch Arbeit findet nicht mehr hinter geschlossenen Türen statt, sondern transparent und für jeden sichtbar.
    3. Statt den Mitarbeitern IT-Tools aufzuzwingen, wählen diese selbst die Werkzeuge aus, die ihnen am nützlichsten sind. Ebenso wird man diejenigen Informationen auswählen, die man braucht, anstatt sich wahllos mit Allem überhäufen zu lassen.
    4. Statt die Mitarbeiter aus Angst vor Fehlern zu kontrollieren, erhalten sie mehr Gestaltungsfreiraum und müssen im Gegenzug mehr Verantwortung tragen.
    5. Information wird nicht mehr konzentriert und "geschützt", sondern ist offen zugänglich. Der Informationsfluss ist weniger stark geregelt.
    6. Die Bedeutung des Kontextes tritt stärker in den Vordergrund. Anstatt Information als losgelöst vom Kontext zu untersuchen, fließen die Umstände/Rahmenbedingungen stärker in die Betrachtung ein.
    7. Die Welt wird als komplex und mannigfaltig wahrgenommen. Das einfache Ursache-Wirkungsmodell hat ausgedient und wird anderen Ansätzen weichen müssen. [3]
    8. In der heutigen Zeit wächst die Fülle an (öffentlich zugänglichen) Informationen immer schneller. Es dauert jedoch meist einige Zeit, um die meist komplexen und manchmal chaotischen Sachverhalte zu verstehen. Oft hilft das Gespräch mit anderen, um aus dem vielen Faktenwissen etwas Sinnvolles zu machen - ein methodischer Ansatz dazu ist das Knowledge Cafe. [4]

    Norbert Gronau

    Norbert Gronau studierte Maschinenbau und Betriebswirtschaftslehre an der technischen Universität Berlin. Er promovierte über die „Konzeption eines strategieorientierten Führungsinformationssystems zur Entscheidungsunterstützung des Produktionsmanagements“ und habilitierte sich mit dem Thema "Nachhaltige Architekturen industrieller Informationssysteme bei organisatorischem Wandel". Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik und Electronic Government an der Universität Potsdam. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen betriebliches Wissensmanagement und wandlungsfähige ERP-Systeme. Zudem ist er wissenschaftlicher Leiter des am Potsdamer Lehrstuhls angesiedelten Center for Enterprise Research (CER).

    Visionen - Thesen über Wissensmanagement-Trends

    1. Derzeit ist noch keine typische organisatorische Zuordnung von Aufgaben des Wissensmanagements in der Aufbauorganisation von Unternehmen erkennbar.
    2. Kompetenz und Erfahrung von Menschen ist nicht durch Einsatz rechnergestützter Systeme zu ersetzen. Noch können diese die notwendige Kreativität und Intuition nicht liefern.
    3. Im interorganisationalen Bereich haben sich die Themen Sicherheit der Information und Schutz vor Diebstahl intellektuellen Eigentums als wesentliche Treiber des Wandels bemerkbar gemacht. Die Sicherung des intellektuellen Kapitals wird zur Aufgabe des Wissensmanagements.
    4.  Mit der zunehmenden Verbreitung von Social Media im Privatleben wie auch in der unternehmensinternen und -externen Nutzung wird es mehr Versuche mit Web2.0-Technologien und Ansätzen geben und die Unsicherheit über Social Media-Nutzung in Unternehmen abnehmen.
    5. Die Bandbreite der Nachfrage nach Wissensmanagement wird deutlich größer. Immer mehr Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen wird klar, dass das Wissen ihrer Mitarbeiter ein zentrales Element zur Differenzierung im Wettbewerb darstellt und der Schlüssel zum erfolgreichen Wandel ist.
    6. Für den Austausch von Wissen zwischen den Trägern personengebundenen Wissens wird es zukünftig geeignete Konversations- und Transformationsformen und organisatorisch unterstützte Räume bzw. Zeiten geben müssen.
    7. Wandlungsdruck und Nachfrage der Mitarbeiter erzeugen neue Anforderungen an die IT. Ist die IT unzureichend, droht der Wettbewerb um die Wissensträger zu misslingen. [5]

    Diskussion


    David Griffiths zeigt, dass unter Managern Wissensmanagement weniger wichtig – aber auch eher technisch orientiert – wahrgenommen wird. Wissen an sich nimmt in Organisationen eine immer wesentlichere Rolle ein und wird somit zum strategischen Thema.
    Dave Snowden bringt eine andere Perspektive ein: Best Practices – als Standardmethode für Erfahrungswissen – funktionieren nur bei einfachen Problemstellungen. Komplexe oder chaotische Sachlagen benötigen einen anderen Umgang: erst ausprobieren, dann wahrnehmen und erst am Ende reagieren. Er hebt hervor, dass vorgegebene Strukturen nicht helfen, die Probleme anzugehen und dass eher ein Klima wichtig ist, bei dem Scheitern erlaubt sein muss.
    David Gurteen legt dar, dass sich komplexe oder gar chaotische Sachverhalte am ehesten durch persönliche Gespräche bearbeiten lassen: Dazu müssen entsprechende Gelegenheiten geschaffen werden.
    Norbert Gronau stellt fest, dass die Bandbreite von Wissensmanagement deutlich größer wird: Neben Social Media, intellektuellem Kapital und Wandlungsdruck spielt die IT in dem Zusammenhang eine wichtige, neue Rolle.
    Auch David Griffiths unterstreicht die Rolle von Wissen im Zusammenhang mit der Wandlungsfähigkeit. Aus Sicht einer Organisation ändert sich ihre Umwelt schnell und unvorhersehbar – u.a. wegen verschiedener Krisen auf nationaler und internationaler Ebene. Deshalb nimmt Wandlungsfähigkeit eine wichtige Rolle ein. Wissen wiederum ist für Organisationen Grundlage für Wandel, da Veränderungen mit dem gemeinsamen Wissen aller Mitarbeiter besser eingeschätzt werden können. Wird ihr Wissen und ihre Kreativität genutzt, können neue Ansätze – und somit zukunftsfähige Innovationen – erst entstehen.

    Literatur

    [1] David Griffiths: The future of KM (7/2011) - theknowledgecore.wordpress.com/2011/07/16/the-future-of-km

    [2] Dave Snowden: Judgement & resilience, KM Asia November 2010, Keynote – www.cognitive-edge.com/presentationdetails.php
     
    [3] David Gurteen: World 2.0, in: Gurteen Knowledge: 10 Years in KM, 2010
    gurteen.com/gurteen/gurteen.nsf/id/gk10km

    [4] Elisabeth Wagner: Das Knowledge Café nach David Gurteen. In: ProjektMagazin, Ausgabe 21/2011

    [5] Norbert Gronau: Herausforderungen und Trends im Wissensmanagement (KnowTech 2011 – Keynote, Bad Homburg)

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