Von Wissensstätten zu Wissensstädten

    26. September 2011 von Prof. DI Günter Koch

    Die Schlagworte, mit denen heute die Zukunftsfähigkeit von Regionen und Städten charakterisiert werden, lauten Innovation, Technologie, Forschung und Wissenschaft. Kein Insider will bestreiten, dass das die Determinanten zukünftiger Wettbewerbsfähigkeit sind. Und niemand zweifelt, dass Wissen neben Arbeit, Kapital und materieller Infrastruktur der vierte und immer dominanter werdende Faktor einer ökonomiebasierten Gesellschaft ist. Wissen ist aber mehr als Wissenschaft und eine „Wissensstadt Berlin“ mehr als die Summe ihrer Wissenschaftseinrichtungen.

    Der aktuell regierende Bürgermeister von Berlin hat seiner Stadt das bemerkenswerte Prädikat „arm aber sexy“ verliehen. Und tatsächlich: so oft man diese Stadt besucht, erlebt man immer wieder aufs Neue, dass es materiell an vielem krankt und dennoch die intellektuellen, kreativen und wissbegierigen Bürger und Studierenden dieser Metropole als Treiber der konstruktiven bis exzessiven Prozessen des Disputierens, des Auseinandersetzens, der Erfindens und des Unternehmens diese sichtbaren Unzulänglichkeiten vergessen machen, zumindest aber – diesen Verdacht bin ich meiner Wiener Provenienz schuldig – sie verdrängen.

    Standort- und Wirtschaftsförderung wird in der Provinz immer noch als Subventionsgeschäft verstanden: Billige und verkehrstechnisch gut angebundene Grundstücke oder kostengünstige Büroflächen werden weiterhin  als erste Argumente ins Feld geführt, wobei gerade die attraktivsten Investoren in wissensbasierte Unternehmen selbst z.B. steuerliche Vorteile weit hintenan, dafür aber Kriterien wie das Vorhandensein von „Wissenseinrichtungen“ und mit Ihnen das Potential an bestgebildeten Köpfen für entscheidend erachten. Die war z.B. der ausschlaggebende Grund, warum der Elektrokonzern sein europäischen Forschungszentrum in Deutschland eingrichtet hat [1].

    Mit der Transformation von der Informations- in die Wissensgesellschaft, die in der sog. Lissabon-Agenda expressis verbis als Strategie verfasst ist, hat sich auch das Bewusstsein zur Standortqualifikation grundlegend gewandelt. Seit etwa einer Dekade profilieren sich zukunftsoffene Städte als „Wissensstädte“ und Regionen als „Wissensregionen“ – so z.B. die nahe bei Karlsruhe und Freiburg gelegene Wirtschaftsregion Ortenau [2].

    Bild Beispiele Wissensstädte
    Abb. 1- Beispiele von Wissensstädten, die seit Kurzem wie Pilze aus dem Boden sprießen

    Was ist nun eine „Wissensstadt“ konkret? Die bisher typischen Profile einer Stadt, die durch Baudenkmäler, Wirtschaftsbetriebe, die „harte“ Infrastruktur sowie Kulturstätten geprägt waren, weichen dem Image von Lebensqualität, Geselligkeit, Kunst, Kultur und eben „Wissen“. Vor allem Städte, die sich in tiefgehenden Transformationsprozessen wie gerade Berlin befinden, wollen diesem neuen Lebensbedürfnis ihrer Bürger sowohl durch ein verbessertes Kulturangebot, aber auch durch erweiterte Möglichkeiten des sich Bildens, Lernens, Kunst Produzierens und damit eines Angebots an attraktiven Arbeitsplätzen  differenzieren.

    Festzuhalten ist, dass ein Anspruch „Wissensstadt“ werden oder sein zu wollen, sich nicht per Deklaration erreichen lässt, vielmehr erwartet sich ein externer Beobachter und Analytiker von einer Wissensstadt, dass diese „Qualitätsmarke“ mit einer qualifizierten Analyse wie z.B. einer sog. Wissensbilanz hinterlegt und bewiesen werden kann.

    Eine mögliche, vom World Capital Institute in Monterrey, Mexiko, publizierte Charakterisierung und Ausprägung für eine „Wissensstadt“ wird mittels folgender Kriterien definiert [3]:

    1. „Identitätskapital“, d.h. die klare Profilierung und Erkennbarkeit der Vorteile und der Charakteristika einer Stadt. Weiß Berlin das – jenseits seiner „Sexyness“?
    2. „Intelligence Capital“, womit die Fähigkeit der intelligenten Konzeption und Umsetzung einer Entwicklungsstrategie einer Stadt gemeint ist. Gibt es eine solche Strategie für Berlin? Ist sie kommuniziert? Der Autor zweifelt!
    3. „Finanzkapital“, hier unter dem Aspekt der prinzipiellen Fähigkeit und des Willens zur finanziellen Investition in die Zukunft zu verstehen (Inputindikator). Die von Berlin gegebene Auskunft ist: Wir investieren – nach Baden-Württemberg – am meisten in Bildung und Forschung.
    4. „Beziehungskapital“. Dessen Definition entspricht dem, was auch im originären österreichischen Wissensbilanzmodell darunter verstanden wird. Bei einer Stadt wären dies z.B. Partnerschaften, Verbandsmitgliedschaften u.ä.m. Berlin ist fraglos auf allen Ebenen ein beliebter Vernetzungspartner.
    5. „Individuelles Humankapital“, also das Vermögen, die Kenntnisse und Fähigkeiten, über das/die Bürger als Individuen verfügen und das statistisch als „Bildungsprofil“ der Bürgerschaft ausgewiesen werden kann. Berlin reklamiert, proportional mehr akademische Arbeitnehmer als alle anderen Bundesländer zu haben.
    6. „Kollektives Humankapital“, das ist das Humankapital, das definierte Kollektive von Bürgern z.B. in der Personifizierung von Vereinen Initiativen etc. einzubringen in der Lage sind. Ein Beispiel sind alle „Sozialisierungen“, die am Standort Adlershof zwischen den MitarbeiterInnen der dort ansässigen Instituten und Unternehmen entstanden sind.
    7. „Materiell-instrumentelles Kapital“: Darunter sind die materiellen Ressourcen und Instrumente zur Realisierung einer städtischen Wissensstrategie zu verstehen. In dem Punkt – siehe das Zitat von der „armen“ Stadt Berlin – schaut es wohl weniger gut aus.
    8. „Wissens-instrumentelles Kapital“ stellt die Wissens-Ressourcen und Instrumente dar, mit denen die Wissensstrategie einer Stadt umgesetzt werden kann. Was offenkundig fehlt, ist das Zusammenspiel der auffällig vielen Initiativen, die wiederum ein Beleg, für Virulenz und „Vibration“ in Berlin darstellen.

    Die Methodik der Profilierung als Wissensstadt hatte ihren Ausgangspunkt in Arbeiten zur Wissensbilanzierung, die Ende der 90-er Jahre in Österreich und dort konkret in denen zur Fraunhofer-Gesellschaft vergleichbaren „Austrian Research Centers“ (ARC) ihren Anfang genommen [4]. Das Motiv war, der steuerzahlenden Öffentlichkeit und der Politik gegenüber eine systematische Argumentation liefern zu können, warum sich Forschung und Wissenschaft für die Gesellschaft auch dort „lohnt“, wo keinen direkt verwertbaren Ergebnisse entstehen. Dabei zeigte sich, dass ein rein ökonomischer Nachweis sowohl schwierig zu führen ist, als auch dort keinen Sinn macht, wo es auf die „nicht anfassbaren“ (engl. intangiblen) Faktoren, wie eben Wissen, Kreativität, Innovativität sowie soziale Kompetenz und Kohärenz ankommt – alles Faktoren, die man in Berlin unter dem Attribut „sexy“ subsummieren mag. 

    Ergebnis dieser methodischen Überlegungen für die österreichischen Forschungszentren war ein konsistentes Modell zur „Wissensprofilierung“, das sich seither nicht nur für Forschungsorganisationen sondern auch für Unternehmen  und Gebietskörperschaften als nützlich erwiesen hat. Eine Ausprägung des Wissensbilanzierungs-Modells für die politische Strategiebildung ist in Abb. 2 wiedergegeben. Der zughörige Prozess einer partizipativen Entwicklung einer sogar nationalen Wissensbilanz (am Beispiel Österreichs) wird im „Austrian Knowledge Report“ von U. Schneider erläutert. [5]

    Bild Standardmodell Wissensbilanz für Städte und Regionen
    Abb.2 – Das Standardmodell einer Wissensbilanz adaptiert für Städte und Regionen

    In Vorbereitung dieses Beitrags ließ sich eine unglaubliche und (verwirrenden) Fülle von Analysen und Statistiken zum Standort Berlin ausheben. Das Problem, das mit derart vielen Faktensammlungen erzeugt wird ist, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, oder, anders formuliert, der Zusammenhang insbesondere für politische Entscheidungsträger verloren geht. Das war und ist aber genau der Ansatz, den wir in Österreich mit der „Wissensbilanzierung“ zu erreichen versuchen und den wir gerne unseren Freunden in Berlin anempfehlen möchten. Der Erfolg des Verfahrens war so eindrucksvoll, dass Österreichs Regierung seit 2006  alle seine 22 Universitäten verpflichtet hat, jährlich eine Wissensbilanz zum Nachweis, dass ihr jeweiliges„Wissen“ gewachsen ist, der Öffentlichkeit vorzulegen.

    Johann Friedrich Hebbel hatte über Österreich in den nachrevolutionären Jahren nach 1848 geschrieben, dieses Land sei „eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“ [6]. Der Autor hatte das persönliche Glück, in Analogie einen ebensolchen Mikrokosmos in Berlin zu  entdecken und an dessen Entwicklung als Kurator partizipieren zu dürfen: Das FIRST-Institut in Adlershof [7]. Es ist dieses Institut deshalb eine „Probebühne“ der Wissenschaft, weil in ihm viele wissenschaftliche Disziplinen versammelt sind, weil es unter seinem Direktor Stefan Jähnichen ein Ambiente des offenen Entdeckens und Erfindens ermöglicht und weil es eben vieldimensional und transdisziplinär, also jenseits disziplinärer Begrenzungen –  nicht nur multidisziplinär! – ausgerichtet ist und neuen, „verrückten“ Ideen wie z.B. der Entwicklung von interaktiven elektronischen Litfass-Säulen und parallel dazu dem „Gedankenlesen“ mittels Computern Raum verschafft. Mit seiner bunten intellektuellen Mannschaft repräsentiert dieses Institut ein Musterbeispiel für eine Wissenseinrichtung, in der die intangiblen Faktoren für den Erfolg mindestens so viel zählen wie die tangiblen und verwertbaren Ergebnisse wissenschaftlicher Projekte.

    Nach neueren Erkenntnissen sogar konservativer Wirtschaftsprüfer hängt der Erfolg eines Unternehmens zu 75% von den intangiblen Faktoren ab, also von Faktoren, die kaum dokumentiert und selten in Berichten gefasst sind [8]. Wir meinen damit die betriebliche Stimmung, das gute Zusammenspiel der Akteure und ihre Sozialkompetenzen, die „Good Vibrations“ und überhaupt ein Klima, wie es eine offene Metropole wie Berlin als Ambiente bieten kann und das eher gefühlt als rational verstanden wird, eben „intangibel“ ist.
    Berlin mag materiell arm sein, in den intangiblen Dimensionen ist diese Stadt „reich und sexy“ - quod erat demonstrantum.

    Referenzen

    [1] General Electric Corp. (GEC) and Ernst & Young, (06/2004): Study on Germany as a location for research. The results of this study provided the deciding arguments for GEC then to found its new European research center in Munich. 
    [2] Wirtschaftsregion Offenburg / Ortenau (Hrsg.). Autoren: C. Nagel, S. Mauch: Regionale Wissensbilanz Ortenaukreis. 2009. Erhältlich via Wirtschaftsregion Offenburg/Ortenau GmbH,  Kontakt: manfred.hammes[at]wro.de
    [3] The World Capital Institute, Monterrey, Mexico. Javier Carrillo & Blanca Garcia: The MAKCi Award – the most admired Knowledge Cities 2007 - 2010. http://www.worldcapitalinstitute.org/makci/makci-awards-most-admired-knowledge-city
    [4] G. Koch, K.-H. Leitner, M. Bornemann: Measuring and reporting intangible assets and results in a European Contract Research Organization. Paper submitted for the Joint German-OECD Conference: Benchmarking Industry-Science Relationships, October 16 – 17, 2000, Berlin, Germany. See:
    http://www.execupery.com/dokumente/OECD-Papier_Wissensbilanzierung.pdf
    [5] U. Schneider: Austrian Knowledge Report. Report on a transdisciplinary pilot project, run from 2005 - 2007 by the wb:ö core team consisting of: Andreas Brandner, Günter Koch, Anja Lesofsky, Ursula Schneider, Thomas Vlk, Martin Unger, Elfriede Wagner. Erstherausgabe anlässlich der Konferenz „Knowledge Based Development“ in Monterrey, Mexico, Oct. 2007
    [6] Friedrich Hebbel: "Dies Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Und waltet erst bei uns das Gleichgewicht, so wird's auch in der andern wieder licht." Zitiert nach einer Deklamation 1862 im Operntheater in Wien. Hebbel lebte zu jener Zeit dort.
    [7] Fraunhofer-Institut FIRST, Berlin. Jahresbericht 2009: “Was steckt dahinter?” Siehe  http://www.first.fraunhofer.de/presse/infomaterial/
    [8] Michaela Seiser: „Wissen ist Kapital“ und „75% des Vermögens sind nicht in Zahlen fassbar“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), vom 23.2.2009, Seite 10. 

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