Von Japan lernen? Wissensmanagement im Fernen Osten

    29. März 2010 von Prof. Dr. Parissa Haghirian

    Schon seit den 80-Jahren wird Japan als Vorreiter im Wissensmanagement gesehen. Japanische Unternehmen scheinen Wissen scheinbar mühelos zu managen, obwohl sie sich in hohem Ausmass auf implizites Wissen und nicht auf Datenbanken verlassen; der Wissensaustausch in japanischen Unternehmen funktioniert ohne Barrieren und neue und innovative Produktideen werden in der Gruppe entwickelt. Es stellt sich also die Frage, wie wird in Japan Wissen gemanagt und was können wir von japanischen Unternehmen lernen?

    Dieser Beitrag wurde im Open Journal of Knowledge Management, Ausgabe I/2010 veröffentlicht.


    Die japanische Kultur und ihr Einfluss auf japanisches Wissensmanagement

    Japan ist, wie die meisten asiatischen Kulturen kollektivistisch orientiert; Harmonie und das Gemeinwohl der Gruppe stehen im Vordergrund. Europäische Kulturen hingegen bevorzugen eine individualistischere Weltsicht, der Mitarbeiter als Einzelperson wird hier als wichtig erachtet. Kommunikationsprozesse spiegeln diese Werte sehr stark wider, welche sich in weiterer Folge auch im Management von Wissen erkennen lassen.

    Schon in der Bedeutung von Wissen fürs Unternehmen zeigt sich der erste grundlegende Unterschied zwischen Ost und West. In Japan, wo seit der Öffnung des Landes im 19. Jahrhundert eine lange Tradition der Integration von Wissen aus dem Westen besteht, herrscht generell eine sehr hohe Aufnahmebereitschaft gegenüber Wissen aus anderen Ländern. Jede Art von Information wird traditionell interessiert aufgenommen, danach dokumentiert und bei Bedarf weiterverarbeitet. Wissen wird daher auch in Unternehmen mit sehr hohem Aufwand gesammelt, ohne gleich auf Einsetzbarkeit geprüft zu werden.

    Europäische Unternehmen hingegen konzentrieren sich schon bei der Akquisition von Wissen darauf, seinen Nutzen festzustellen. Sie bewerten Wissen vor allem im Hinblick auf seine Profitabilität. Die Zielsetzung hier ist eine gewinnorientierte Weiterverwendung des vom Unternehmen angesammelten Wissens. Oft vernachlässigen sie hier aber Informationen, die eventuell für die Zukunft des Unternehmens von Interesse wären, weil sie deren Wert nicht auf den ersten Blick erkennen. Japanische Unternehmen hingegen zeigen mehr Offenheit, wenn es um neue Ideen geht. Diese werden nicht gleich bewertet, sondern erst mal wertfrei gesammelt und erst zu einem späteren Zeitpunkt weiterverwendet.

    Menschen als Wissensträger

    Je nach kultureller Ausrichtung des Unternehmens bekommt Wissen als unternehmensinterner Faktor auch unterschiedliche Rollen. Im Gegensatz zu japanischen Unternehmen zeichnen sich westliche Unternehmen durch einen sehr viel größeren internen Wettbewerb aus. Die Mitarbeiter sind daher meist nicht bereit, ihr Wissen freiwillig zu teilen. „Wissen ist Macht“ ist nicht nur ein Sprichwort, sondern beschreibt oft die reale, individualistisch geprägte Arbeitswelt. Die Mitarbeiter sind bemüht, ihren individuellen Wissenstand zu erhöhen, und an Weiterbildungsmaßnahmen interessiert. Europäische Mitarbeiter stellen ihre individuellen Wünsche über die des Unternehmens. Firmen müssen jederzeit damit rechnen, dass ihre Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, sobald sie eine verantwortungsvollere Position mit höherem Verdienst finden. Sie investieren daher vor allem in die Archivierung von implizitem Wissen. Folglich liegt der Schwerpunkt der Wissensmanagementaktivitäten auf der Implementierung und Wartung von Datenbanken.

    In japanischen Unternehmen hingegen genießen Mitarbeiter eine hohe Arbeitsplatzsicherheit. Wissen ist somit kein individueller Machtfaktor. Die Mitarbeiter können Informationen daher leichter weitergeben. Sie erwarten zudem keine auf individuelle Interessen ausgerichteten Weiterbildungsmaßnahmen. Auch die Grenzen zwischen formellem und informellem Wissen sind nicht eindeutig. So sind japanische Manager bekannt dafür, beinahe täglich nach der Arbeit mit ihren Kollegen noch ein nomikai (Party mit alkoholischen Getränken) in einem Restaurant zu veranstalten. Diese Events dienen nicht nur der Entspannung, sondern sind eines der wichtigsten Wissensaustauschinstrumente denn sie fördern Harmonie und langfristige Zusammenarbeit, die Grundlage japanischer Unternehmensprozesse. Die Fluktuation der Arbeitskräfte ist geringer, implizites Wissen bleibt erhalten. Somit sind Maßnahmen, implizites Wissen zu archivieren, in östlichen Kulturen nahezu überflüssig.

    Wissensmanagement und Wissensweitergabe

    Der Schwerpunkt japanischen Wissensmanagements liegt auf den operativen Abläufen der Wissensweitergabe. Wissensmanagement wird daher nicht vom Top-Management forciert, sondern gehört zu den alltäglichen Aufgaben im Unternehmen. Das Management von Wissen ist aber vergleichsweise zeitaufwändig und kostspielig. Die Wissensweitergabe erfolgt vor allem undokumentiert auf der persönlichen Ebene, beispielsweise in Form von Mentorenprogrammen oder On-the-Job-Trainings, aber auch in Besprechungen: Der japanische Arbeitsalltag besteht aus zahlreichen Meetings. Hier diskutieren die Anwesenden die vorhandenen Informationen oft stundenlang. Somit entsteht auch neues Wissen in der Gruppe und nicht durch Einzelpersonen.

    Westliche Unternehmen konzentrieren sich hingegen auf die Archivierung von Wissen. Ziel ist die Loslösung des Wissens von den Mitarbeitern, um es zu bewahren und zukünftig Gewinn bringend einzusetzen. Da europäische Mitarbeiter ihr Wissen aber nicht immer freiwillig teilen, müssen Unternehmen Wissensmanagement mit Hilfe der Unternehmensleitung einführen und mit hohem Aufwand vorantreiben. Der Schwerpunkt liegt daher auf der Implementierung und Akzeptanz der Wissensmanagementaktivitäten. Das Wissen steht dabei allen Mitarbeitern gleichermaßen zur Verfügung. Sie können beispielsweise auf Datenbanken zugreifen, relevante Informationen auswählen und danach weiterverwenden. Die Schaffung von neuem Wissen findet durch die einzelnen Mitarbeiter statt.

     

    Europa

    Japan

    Bedeutung von Wissen für das Unternehmen

    Wissen muss Gewinn orientierte Relevanz für das Unternehmen haben

    Jede Art von Wissen wird gleichwertig behandelt

     

    Auswirkungen

    Wissen, das nicht direkt als profitträchtig eingestuft ist, wird vernachlässigt

    Wissen wird mit großem Zeit- und Kostenaufwand gesammelt, auch wenn es gar nicht oder nicht gleich weiterverwendet werden kann

    Die Rolle von Wissen im Unternehmen

    Wissen ist ein persönlicher Machtfaktor

    Wissen ist kein Machtfaktor für den Einzelnen

     

    Auswirkungen

    Mitarbeiter versuchen sich Spezialwissen anzueignen und sind nicht immer bereit, zu teilen

    Mitarbeiter beteiligen sich an der allgemeinen Wissensweitergabe und konzentrieren sich vor allem auf die Verteilung, weniger auf die Selektion von Wissen

    Wissensträger

    Wissen wird als explizites Wissen in Datenbanken gesammelt und gespeichert

    Wissen wird als implizites Wissen in den Köpfen der Mitarbeiter bewahrt

    Auswirkungen

    Kostenaufwand durch Investitionen in Datenbanken

     

    Anreizsysteme müssen Mitarbeiter zum aktiven Wissensmanagement motivieren

    Zeitaufwand durch Wissensweitergabe

    Wissens-management und Wissens- weitergabe

    Wissensmanagement ist nicht immer in den operativen Tätigkeiten des Unternehmens verankert, sondern muss implementiert und von der Unternehmensführung durchgesetzt werden

    Wissensmanagement hat einen sehr hohen Anteil an allen operativen Tätigkeiten im Unternehmen 

    Auswirkungen

    Unternehmensleitung konzentriert sich auf die Einführung und Akzeptanz der Wissensmanagement­aktivitäten

     

    Wissensgenerierung durch Einzelpersonen

    Unternehmensleitung konzentriert sich auf die Durchführung der Wissensmanagementoperationen

     

    Wissen entsteht in Gruppendiskussionen

    Tabelle: Wissensmanagement in Ost und West

    Was können wir voneinander lernen?

    Japanisches und westliches Wissensmanagement haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Europäische Unternehmen konzentrieren sich auf strategische Aspekte des Wissensmanagements und versuchen vor allem ihre Geschäftsprozesse den Wissensmanagementzielen anzupassen. Japanische Unternehmen hingegen haben die operativen Abläufe im Bereich Wissensmanagement perfektioniert, aber oft keine strategischen Vorgehensweise beim Einsatz der Informationen.

    Für Japan, das sich jahrzehntelang auf die Speicherung von Wissen durch Mitarbeiter verlassen hat, wird gerade dieser Punkt immer mehr zur Herausforderung. Im Jahr 2007 startete die erste Pensionierungswelle japanischer Babyboomer (zwischen 1947 und 1949 geborene Japaner). Schätzungen gehen davon aus, das mehr als 6,8 Millionen Arbeitnehmer – fast 10 Prozent der arbeitenden Bevölkerung - bis jetzt in den folgenden Jahren den japanischen Arbeitsmarkt verlassen werden und einen beträchtlichen Teil ihres Know-hows mit in den Ruhestand nehmen. Derzeit gibt es daher starke Bemühungen, das vorhandene Wissen weiterzutransferieren, allerdings auf die traditionelle japanische Weise: persönliche Kommunikation. Firmen wie Toyota versuchen ausscheidende Arbeitnehmer für weitere Tätigkeiten auf Teilzeitbasis nach ihrer Pensionierung zu gewinnen, vor allem als Trainer für Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen. Westliche Unternehmen könnten hier durch ihre Erfahrungen in der Wissensarchivierung ein gutes Vorbild sein.

    Europäische Firmen haben hingegen Nachholbedarf beim Wissensaustausch. Hier können sie von den Japanern lernen. Die Wissensweitergabe durch persönliche Interaktion, wie beispielsweise Mentorenprogramme, scheint auf den ersten Blick zwar aufwändig. Sie fördern aber den Informationsfluss. Gleiches gilt für die Schaffung neuen Wissens innerhalb einer Gruppe. Denn nicht immer kann eine Einzelperson die Relevanz einer Information richtig einschätzen. Wertvolle Ideen werden so mitunter vernachlässigt und Marktchancen übersehen. Die Wissenskreierung durch Gruppendiskussionen kann solchen Fehlern vorbeugen und Unternehmen weltweit wettbewerbsfähiger machen.

    Die Zukunft? Interkulturelles Wissensmanagement

    Kulturunterschiede im Wissensmanagement stellen für viele multinationale Unternehmen ein großes Problem dar. Sie sind oftmals Grundlage für Missverständnisse zwischen den einzelnen Unternehmenseinheiten. Doch sie bieten auch viele Lernchancen. Wie können nun Wissensmanager aus Ost und West mit diesen Unterschieden konstruktiv umgehen und vielleicht sogar aus ihnen lernen??

    Die meisten Konflikte entstehen beim Wissensaustausch. In Japan ist das Vertrauen in die richtige Weiterverwendung von Wissen die Grundlage aller Geschäftsbeziehungen. In ihrer Zusammenarbeit mit europäischen Kollegen finden japanische Mitarbeiter deren „ewige Geheimniskrämerei“ daher schwer verständlich. Für sie ist die Wissensweitergabe innerhalb des Unternehmens eine gewöhnliche Managementoperation und dient allgemeinen Unternehmenszielen. Europäer sind hingegen oft irritiert, wenn ihre japanischen Geschäftspartner Informationen fordern, die in Europa nicht kommuniziert werden und als vertraulich gelten.

    Auch die unterschiedlichen operativen Tätigkeiten in punkto Wissensmanagement sind eine Herausforderung. In Japan wird Wissen innerhalb des Unternehmens ständig transferiert. Die Mitarbeiter sehen sich mit einer Informationsflut konfrontiert, müssen sich allerdings keine Informationen selbst beschaffen. Für europäische Mitarbeiter hingegen ist Wissensmanagement eine eigenverantwortliche Tätigkeit. Sie sind es gewöhnt, Informationen zu suchen, zu filtern und weiter zu verwenden und erwarten das auch von japanischen Kollegen.

    So unterschiedlich beide Zugänge auch sind, Wissensmanager der Zukunft sollten beide verbinden können. Operative Prozesse sind in Japan in vielen Fällen besser organisiert, sollten aber durch profitorientierte Strategien, wie sie in vielen westlichen Unternehmen im Einsatz sind, unterstützt werden. Moderne Wissensorganisationen müssen Freiräume schaffen und die persönliche Interaktion zwischen Mitarbeitern fördern. Gleichzeitig muss die Weitergabe von Wissen gefördert und gleichzeitig eine gute IT-Infrastruktur geschafften werden, um dieses Wissen auch zu archivieren.

    Last but not least, ist es aber am wichtigsten, offen für neue und innovative Wissensmanagementideen zu sein und von anderen Kulturen auch in diesem Bereich zu lernen.

    Weiterführende Literatur

    Haghirian, P. (2010): Innovation and Change in Japanese Management, London: Palgrave Macmillan.

    Nomura, T. and P. Haghirian (2008): Innovationsmanagement made in Japan (In German: Managing Innovations in Japan). Wissensmanagement Dezember 2008, p. 24-26.

    Ohnishi, A. (2009): Knowledge Management. In P. Haghirian (Hg.): J-Management; Fresh Perspectives on the Japanese Firm in the 21st Century. iUniverse Star, S. 204 – 223.

     

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