Von der Paradoxie, Wissen zu managen

    29. Juni 2008 von Beate Bruns

    Schon in den ersten Jahren des Wissensmanagements wurde diskutiert, ob sich Wissen überhaupt managen lässt. Ob nicht der Begriff "Wissensmanagement" einen Widerspruch in sich darstellt. Ich möchte heute behaupten, dass wir es nur in ganz seltenen Fällen überhaupt mit Wissen zu tun haben. Meine These: Der Begriff Wissen wird innerhalb der Arbeitswelt und insbesondere im Wissensmanagement inflationär gebraucht.

    Schon in den ersten Jahren des Wissensmanagements wurde diskutiert, ob sich Wissen überhaupt managen lässt. Ob nicht der Begriff "Wissensmanagement" einen Widerspruch in sich darstellt. Ich möchte heute behaupten, dass wir es nur in ganz seltenen Fällen überhaupt mit Wissen zu tun haben. Wissen ist viel seltener als die Berge, Wüsten, Dickichte und Fluten von Informationen es vermuten lassen. Meine These: Der Begriff Wissen wird innerhalb der Arbeitswelt und insbesondere im Wissensmanagement inflationär gebraucht. Denn: Was heißt Wissen überhaupt? Wissen entsteht in Prozessen, so das moderne Verständnis des Begriffs in den Wissenschaften. Was wir als Wissen bezeichnen, verändert sich. Die Chance, etwas wirklich zu wissen, wächst mit meinen Kenntnissen, Erfahrungen, Informationen, Einsichten. Hinzu kommt die Bewertung. Wissen hängt mit Wahrheit zusammen: Wenn ich bis heute morgen etwas wusste, was sich jetzt als falsch herausgestellt hat, dann habe ich mich tatsächlich geirrt. Und muss nun rückblickend sagen, dass ich es nicht wusste, sondern irrtümlicherweise nur davon überzeugt war.

    In der Literatur des Wissensmanagement wird Wissen unterschiedlich definiert. So ist jene Definition weit verbreitet, die Wissen in der Reihe Zeichen-Daten-Information-Wissen als Information im Kontext einordnet. Oder alternativ dazu aufzählende Definitionen, die die Wissensarten wie Erfahrungswissen, Tatsachenwissen oder lexikalisches Wissen unterscheiden und mit Beispielen illustrieren. Recht aktuell ist der Vorschlag von Gerald Lembke, der Wissen als "[...] die Gesamtheit der Kenntnisse und Fähigkeiten von Personen, die zur Lösung von Problemen eingesetzt werden können. [...]" definiert. (in: Wissenskooperation in Wissensgemeinschaften, S. 34)

    Klassisch muss Wissen drei Bedingungen erfüllen:

    • Das Gewusste ist wahr.
    • Der Wissende ist von dem Inhalt des Gewussten überzeugt.
    • Der Wissende kann das Gewusste gut begründen.

    Ein illusionsloser Blick auf die Unternehmens-Praxis des Wissensmanagements

    In der Arbeitswelt und im übrigen Alltag bedeutet die Wendung "Ich weiß, dass ..." in der Regel:

      • Ich habe öfter die Erfahrung gemacht, dass ...
      • In der Regel funktioniert das [so und so] ...
      • Ich wünsche mir, dass [das und das] eintritt ...

    Das alles sind eher: Erfahrungen, Ansichten, Überzeugungen, Meinungen - gelegentlich entstanden aus Intuition, Unwissenheit oder Wunschdenken. Ab und an wird vielleicht sogar Wissen darunter zu finden sein. Eine Wissensdatenbank oder ein Wissens-Wiki mit dem Projektwissen der Berater ist ein Sammelsurium individueller Erfahrungen, das vermutlich nicht widerspruchsfrei ist. Wissensfragmente und Lerneinheiten sind nicht kontextfrei, Stichwort Transferfehlschluss. Eine Ontologie der zentralen Kategorien, Begriffe und Konzepte einer Organisation ist zwangsläufig statisch, ausschnitthaft, verzerrt.

    Wissen hat mit Wahrheit zu tun. Bei der Wahrheitsfindung kann

      • der Konsens der kompetenten Sprecher einer Sprachgemeinschaft,
      • die Konsistenz einer Aussage im Kontext eines Aussagensystems und dessen Kohärenz,
      • die Korrespondenz zwischen einer Aussage und der Wirklichkeit oder auch
      • die Nützlichkeit der Aussage für eine Gemeinschaft, beispielsweise im Rahmen der Theoriebildung

    im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Wenn wir die Frage, was wahr sei, nicht als überflüssig betrachten, sprechen wir bisweilen über Evidenz und manchmal über Intuition. Wahrheit - und damit Wissen - stehen im Kontext von Korrektheit, Authentizität, prinzipieller Widerlegbarkeit und Wahrhaftigkeit. Wir kennen den traditionellen, derzeit sich überholenden bzw. möglicherweise gerade überholt werdenden Prozess der Entwicklung und Publikation von Wissen in der Wissenschaft auf der einen Seite und den Prozess der ungesteuerten Anhäufung von schier unbegrenzten Informationen auf der anderen Seite, in Zeiten von Web 2.0 auf den im Grund nicht viel (nichts?) sagenden Begriff "user generated content" getauft - so ist doch jeder "Content" von einem "Nutzer" erzeugt. Hinzugekommen ist der komplexer werdende Prozess kommunitarischer Wissensbildung wie in Wikipedia. Dort stehen allerdings die Ideale der Freiwilligkeit, Verfügbarkeit, Transparenz und individueller Kompetenz im Widerstreit mit Fakten wie Missbrauch, reale Unwissenheit oder Täuschung. Welchen Prozesstyp des Wissensmanagement wollen die Unternehmen nun adaptieren?

    Paradoxien

    Wir sind uns also ziemlich sicher, dass es höchst selten um Wissen geht, sondern dass wir es in der Regel mit persönlichen Überzeugungen, Kurzschlüssen, kurzlebigen Erfahrungswerten, Vorurteilen und Glaubenssätzen zu tun haben. Vom Wissen einer Organisation kann deshalb nur metaphorisch gesprochen werden. Am ehesten meinen wir damit wohl die Summe des Wissens der Mitglieder der Organisation. Das Wissen jedes Einzelnen ist jedoch häufig konträr bis kontradiktorisch, sowohl in Bezug auf die Person als auch im interpersonellen Vergleich. Die Summe dieses Nicht-Wissens der Einzelnen wird man wohl kaum noch als Wissen der Organisation bezeichnen wollen. Müsste Wissensmanagement - wenn wir es nicht auf Daten- und Informationsmanagement reduzieren wollen - also eher Meinungs- und Erfahrungsmanagement heißen? Geht es beim Wissensmanagement tatsächlich um das Management des Nicht-Wissens? Doch ist das noch interessant? Dient das der Wertschöpfung?

    Aufatmen ...

    Sobald wir uns über diese Schwierigkeiten und Paradoxien im klaren sind, dürfen wir es auch wieder "Wissensmanagement" nennen, um das Ziel nicht aus dem Blick zu verlieren: Etwas zu wissen. Mit dem Begriff Wissensmanagement nehmen wir im Grunde das Ergebnis unserer Arbeit vorweg. Wenn wir das erkennen, werden wir uns bewusst,

      • dass das, was wir vorläufig "Wissen" nennen, fragil und veränderlich ist,
      • dass einigermaßen valides Wissen aus einem vielschichtigen und langwierigen Erkenntnis- und Bewertungsprozess hervorgeht und immer wieder neu diesem Prozess unterworfen wird und dass
      • Wissen kontextgebunden ist.

    Das Schöne dabei: Wenn das, was wir gemeinhin Wissen nennen, nur vorläufig ist und kontinuierlich von uns selbst oder anderen verändert wird, dann ist darin ein Hinweis auf die Lösung eines der Kernprobleme des Wissensmanagement verborgen, eine Antwort auf die Frage: Wie bringe ich mich selbst und die Führungskräfte, Mitarbeiter und Kollegen in meiner Organisation dazu, Wissen zu teilen? Mein eigenes Wissen betrachte ich fortan nicht mehr als statisch, fixiert oder unantastbar, sondern als veränderbar, beweglich, vorläufig und möglicherweise nur relativ gültig. Als Folge davon laufe ich bei Veröffentlichung und Weitergabe dieses Wissens weniger Gefahr, etwas zu verlieren oder preiszugeben; sehe vielmehr die Option, in diesem Prozess mein eigenes Nicht-Wissen überhaupt erst in Wissen zu verwandeln. Was ist erkennbar? Was können wir wissen? Was bleibt unentdeckt? Wissen wächst in der Auseinandersetzung mit dem unerschöpflichen Reich des Ungewussten und Unbewussten. Die sokratische Paradoxie "Ich weiß, dass ich nichts weiss" ist der Kern des Lernens. In der bewussten Gestaltung von Wissens- und Lernprozessen arbeiten wir mit dieser Paradoxie.

    Ausblick

    Im Kern des Wissensmanagement steht nicht das Management von Informationen und Daten, sondern das Management von vorläufigen Kenntnissen, Veränderungen, Bewertungen und Kontexten. Das ist die eigentliche Herausforderung. Dafür brauchen wir Modelle und Werkzeuge, die

      • zulassen, dass wir "Wissens"-Bestände schnell und flexibel erneuern,
      • verschiedene Stufen des "Wissens" unterscheiden,
      • verschiedene Sichten und Kontexte abbilden,
      • den Transferfehlschluss vermeiden und die
      • es uns ermöglichen, die Qualität des "Wissens" in Hinsicht auf Sachgehalt, Träger-/Produzentenkompetenz und Übertragbarkeit zu beurteilen.

    Und vor allem sind es Menschen, die in der Arbeitswelt nach diesen Einsichten handeln. Die bereit sind, immer wieder zu fragen, was es heißt, etwas zu wissen. Die willens und fähig sind, darüber nachzudenken und sich mit anderen auszutauschen, welche Werte eine Wissensgemeinschaft auszeichnen. Damit vollziehen wir einen Perspektivenwechsel in der Diskussion um Wissensmanagement. Amartya Sen, der im Jahr 1998 für seine Leistungen in den Wirtschaftswissenschaften den Nobelpreis erhielt, zitiert in seinem neuen Buch "Die Identitätsfalle", in dem er die die Verträglichkeit der Kulturen und die globale Identität diskutiert, aus einem Gedicht von Derek Walcott:

      "Ich hab niemals den Augenblick gefunden,
      da ein Horizont den Geist halbierte -
      denn dem Goldschmied aus Benares,
      dem Steinmetz aus Kanton sinkt,
      wie eine Angelschnur, der Horizont
      in die Erinnerung."

    Literatur

    [SCH06] Schmidt, J.: Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie. UVK Konstanz 2006, S. 96.

    [LEM05] Lembke,G.: Wissenskooperation in Wissensgemeinschaften. Förderung des Wissensaustausches in Organisationen. LearnAct Verlag Wiesbaden 2. Aufl. 2005, S. 34

    [SEN06] Sen, A.: Die Identitätsfalle. Die Verträglichkeit der Kulturen. C.H.Beck München 2. Aufl. 2007, S. 193.

    Weitere Hinweise zum Thema

    Wissen oder Wissen? Diskutieren Sie mit im timelines Blog unter blog.time4you.de/blog/

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