Open Innovation. Der offene Umgang mit Wissen verändert das Innovationsmanagement

    29. März 2010 von Michael Bartl

    Unter dem Schlagwort Open Innovation wird derzeit über einen einschneidenden Umbruch im Innovationsmanagement gesprochen. Der Ansatz steht für die aktive strategische Erschließung der kollektiven Wissensbasis, Kreativität und Innovationspotenziale außerhalb des eigenen Unternehmens. Das Internet ist hierbei ein zentraler Treiber und Erfolgsfaktor zur Entwicklung verteilter, offener und interaktiver Innovationssysteme. Anhand von Beispielen aus unterschiedlichen Branchen soll der vorliegende Beitrag einen praxisnahen Überblick über Techniken und Methoden der Open Innovation geben. Netnography, Crowdsourcing und webbasierte Innovationsstudien sind wesentliche Ansätze zur aktiven Integration fortschrittlicher Anwender und Konsumenten in die Neuproduktentwicklung.

    Dieser Beitrag wurde im Open Journal of Knowledge Management, Ausgabe I/2010 veröffentlicht und wurde mit dem 1. Platz ausgezeichnet.


     

    Endlich kommt Bewegung in das Management von Innovationen. Die starren Modellgedanken bestehender Innovationsprozesse werden in Frage gestellt. Open Innovation heißt das Zauberwort. Allzu häufig wird dieser Trend allerdings missverstanden. Es handelt sich nicht lediglich um ein Management Programm das multinationale Großunternehmen einsetzen, um Forschungsausgaben zu senken indem man unternehmensexterne Ressourcen anzapft. Vielmehr verbirgt sich hinter Open Innovation ein Einstellungswandel. "Offen für das Wissen anderer zu sein", "Wissen gemeinschaftlich zu erzeugen" und "Wissen mit anderen zu teilen" sind die zentralen Leitsätze [1]. So selbstverständlich dies auch klingen mag, so schwierig fällt es Unternehmen diese Offenheit an den Tag zu legen. Neue Produkte entstehen nach wie vor allzu oft am Reißbrett hinter den verschlossenen Türen der Entwicklungslabore. Dies führt wiederum zu Produkten und Services, die bestehende Kundenbedürfnisse nicht befriedigen und am Markt floppen. Ernüchternde Misserfolgsraten neuer Produkte von bis zu 70% in Konsumgütermärkten unterstreichen dies. Der Schlüssel zum Erfolg liegt darin, gemeinsam mit den Kunden die Lücke zwischen Markt und Technologie zu schließen. Wir müssen daher das Rollenbild des Kunden neu definieren. Er ist nicht mehr lediglich passiver Leistungsempfänger oder das Objekt der Begierde traditioneller Marktforschungstests. Kunden werden zu aktiven Partnern in der Innovationsforschung. Die aktive Einbindung des Wissens, der Ideen und der Kreativität der Kunden ist angemessen für die heutige mediale Umgebung in der soziale Netzwerke und das Mitmach-Internet bedeutende Aspekte des Lebens geworden sind. Verbraucher sind heute informiert, vernetzt, aktiv und global. Wie moderne Innovationsforschung aussehen kann verdeutlichen die drei folgenden Ansätze und Vorgehensweisen.

    Tauchen Sie ein in die Welt und Sprache der Verbraucher

    Aktive Konsumenten treffen sich zu tausend in Online Communities, um über ihr gemeinsames Hobby, ihre Lebenssituation oder ihre Lieblingsmarke zu diskutieren. Dabei tauschen sie ihre Erlebnisse und Sichtweisen aus, schildern ihre Erfahrungen im Umgang mit Produkten, erörtern Möglichkeiten zur Lösung erlebter Probleme und arbeiten gemeinsam an Produktideen. Online Communities stellen somit für Unternehmen eine einzigartige Wissens- und Innovationsquelle dar, die in dieser konzentrierten und geballten Form vor dem Internetzeitalter nicht anzutreffen war [2]. Netnography [interNET & ethNOGRAPHY] hat sich als die geeignete Methode herausgestellt, um die Innovationskraft von Online Communities nutzbar zu machen. Der methodische Ablauf der Netnography ist in Abbildung 1 dargestellt [3].

    Abbildung 1: Methodische Schritte der Netnography

    In dem Bereich Selbstbräunung greift NIVEA auf die lebhafte Diskussion in Bräunungsforen zurück, um Consumer Insights [4] und Innovationsfelder für diese Produktkategorie zu identifizieren. Es ist überwältigend wie viel spezialisierte Bräunungsforen mit mehreren 10.000 Usern existieren. www.abtan.com, www.tantalk.com, www.tanfx.com, www.tantoday.com, www.tanningbeauty.com, www.sunless.com, www.thetanforum.com, www.iamtan.com sind nur einige davon. Weiterhin haben sich Bodybuilder (z.B. www.bodybuilding-magazin.de) als die wohl fortschrittlichste Anwendergruppe, sogenannte Lead User, herausgestellt. Sie müssen für ihre Wettkämpfe die ideale Bräune präsentieren und greifen zu eigenen Bräunungsmischungen und Autolackierpistolen, um den perfekten Teint zu erreichen. Abbildung 2 zeigt zwei Online-Foren die sich ausführlich dem Thema Selbstbräunung widmen. Durch eine Analyse der verwendeten Profilbilder und Avatare der User lassen sich sogenannte „Consumer Tribes“ oder "Konsumvölkchen" abgrenzen die für jede Community charakteristisch und zumeist auch einzigartig sind [5].

    Abbildung 2: Online-Foren zum Thema Selbstbräunung

    Typischerweise verwendet die Selbsbräunungscommunity auch ihre eigene Sprache. „Racoon eyes“ sind ein feststehender Begriff für die weißen Augenränder die nach einem Sonnenbad mit Augenschutz zurückbleiben. Selbstbräuner werden hier zur kosmetischen Korrektur eingesetzt. Über 3.000 Anwenderstatements sind in die Analyse eingeflossen. Sie berichten von Bräunungsunfällen und von Maßnahmen diese sogenannten „Tanning Desasters“ wieder zu beseitigen. Hier wird mitunter auf drastische Mittel wie Zitronensäure, heißen Duschen oder Nagellackentfernern zurückgegriffen. Eigenkreationen, Anwendungsroutinen und Selbstbräunung als Life Style sind weitere heiß diskutierte Themen. Die Netnography erlaubt ungefilterte und unverfälschte Einblicke in die Anwendungswelten der Kunden. Als Ergebnis werden die gewonnenen Erkenntnisse gemeinsam mit Produktentwicklern und Designern in völlig neue Produkt- und Kommunikationslösungen übersetzt. Produktverbesserungen, neue anwendungsorientierte Nutzertypologien und die Markenwahrnehmung sind weitere Lösungsdimensionen, die durch den Einbezug des Kundendialoges in Bräunungscommunities neue Qualität erfahren.

    Aktivieren Sie die Innovationskraft der kreativen Masse

    Ein weiterer Baustein der neuen Innovationsforschung ist das Crowdsourcing. Mit „Crowd“ wird die Masse von Internetnutzern bezeichnet, die auf einer für jedermann zugänglichen Plattform an einer definierten Aufgabenstellung arbeiten. Diese zunächst noch unbestimmbare Masse festigt sich mit der Zeit, die Menschen lernen sich näher kennen, sie arbeiten kollaborativ zusammen und inspirieren sich gegenseitig. Der Leuchtmittelhersteller OSRAM hat die kreative Masse auf die Entwicklung neuer Ideen für emotionale Lichtlösungen mit LED Technologie angesetzt. Abbildung 1 zeigt die eingesetzte Online-Plattform.

    Abbildung 3: OSRAM Crowdsourcing Plattform [6]

    Die Teilnehmer präsentierten ihre Ideen mit Hilfe von graphischen Designs und technischen Ausführungen. Die Einreichungen wurden daraufhin von den Community-Mitgliedern kommentiert, diskutiert, evaluiert und weiterentwickelt. Erreicht hat man die Besucher über gezielte Bekanntmachung bei Design- und Technik Hochschulen, Betreibern von Blogs und Foren und durch die Nutzung von Web2.0 Plattformen wie Facebook, studiVZ oder Twitter. Ausgelöst durch die viralen Effekte wurde auf mehr als 200 Communities, Blogs und Webseiten über den Ideen Challenge „LED – Emotionalize Your Light“ aufmerksam gemacht. Innerhalb von nur 11 Wochen schlossen sich 910 Mitglieder aus nahezu 100 Ländern der innovativen Licht-Community an. 572 LED Lösungen wurden entwickelt. Mit über 3.000 Kommentaren wurden die entwickelten Ideen angereichert. Mehr als 10.000 Ideenbewertungen erleichterten das Vorgehen bei der Auswahl der besten Ideen. Insgesamt betrug die Verweildauer der Mitglieder auf der von OSRAM gebrandeten Plattform mehrere tausend Stunden. Diese Ergebnisse sind beeindruckend und zeigen wie man Anwender bereits in der frühen Phase der Ideenentwicklung aktiv einbinden kann. Durch den Beitrag der kreativen Masse werden Innovationsimpulse in einer Vielfältigkeit ausgelöst, die ein Unternehmen wohl außerstande ist intern zu generieren. Abbildung 4 zeigt zwar nur einen winzigen Ausschnitt der eingereichten Ideen, vermittelt aber dennoch einen ersten Eindruck zur hohen Qualität der eingereichten Vorschläge.

    Abbildung 4: Auszug der eingereichten LED-Ideen

    Stellen Sie Werkzeuge zur Verfügung, damit Kunden ihre Produktanforderungen und Wünsche selbst zum Ausdruck bringen können

    Neben Ansätzen zur Entwicklung von Innovationsfeldern und Ideen sollten Innovationsstudien auch Werkzeuge bieten, die es den Kunden erlauben an der eigentlichen Produktgestaltung konkret und unmittelbar teilzunehmen. Als das Audi MMI (Multi Media Interface) sein Debüt feierte, etablierte sich das Konzept auf Anhieb als beste Lösung auf dem Markt. Der zentrale Bedienknopf auf der Mittelkonsole und die großen Funktionstasten, die zur Wahl der Hauptbereiche dienten, ließen sich mühelos bedienen, ihre Logik erschloss sich von selbst. Radio, Audio, TV, Information, Telefon und Navigation – nie zuvor lag die Kontrolle über diese Bereiche so intuitiv in der Hand des Fahrers. Im Rahmen der Systementwicklung für die Baureihen A3 und A4 wurde das Audi Virtual Lab der Öffentlichkeit präsentiert. In diesem webbasierten Entwicklungslabor beteiligten sich über 6.200 Autobegeisterte in Deutschland, USA und Japan, um das in Entwicklung befindliche Multimediasystem aktiv mit zu gestalten und ihre Vorstellungen und Bedürfnisse einfließen zu lassen. Die gewählten Design- und Featureoptionen, technische Zwänge und Verbote sowie Preisänderungen wurden unmittelbar mit Hilfe einer virtuellen Prototypensimulation am Bildschirm angezeigt. Auf diese Weise hatten die Kunden die Möglichkeit zukünftige Featurealternativen virtuell zu erleben und zu gestalten. Bis zu 45 Minuten investierten die Teilnehmer, um das ideale Gerät der Zukunft zusammenzustellen. Durch dieses Co-Creation Werkzeug konnte man den Innovationsdrang der Audi-Entwickler mit den Bedürfnisstrukturen der Anwender paaren und dies viel früher als es bis dato durch bestehende Marktforschungsstrukturen möglich war. Bis heute bestätigt die Weiterführung der MMI-Generationen über alle Baureihen hinweg das kundenzentrierte Bedienkonzept. Abbildung 5 zeigt einen Auszug des Virtual Labs [7].

    Abbildung 5: Das Audi Virtual Lab

    Ausblick

    Die soziale Vernetzung im Web hat den Weg für einen Entwicklungssprung neuer Forschungsmethoden bereitet. Moderne Ansätze wie Netnography, Crowdsourcing, Co-Creation oder Lead User verleihen der Innovationsforschung deutlichere Konturen und sorgen für Aufbruchsstimmung insbesondere bei der jüngeren Forschergeneration. F&E-Abteilungen als auch die Marktforschung haben sich lange diesen Entwicklungen verschlossen. Leider beschränken sich im Moment auch viele Aktivitäten darin die neuen Buzzwords über bestehende und häufig angestaubte Marktforschungsmethoden zu stülpen. Kommunikation auf Augenhöhe statt Frontalansprache - das ist was so vielen Entwicklern und auch Marktforschungsabteilungen im Umgang mit Konsumenten nach wie vor häufig schwer fällt und ihnen Angst macht. Hier wird die Selbstfindung der Innovationsforscher ansetzen. Ihre Aufgabe besteht darin die Wertschöpfung interner Abteilungen und externer Kundengruppen zu vernetzen und damit die Innovationskraft zu verbessern. Eintauchen in die Welt der Kunden, die kreative Masse aktivieren und im interaktiven Austausch mit den Kunden Produkte gestalten, dies sind die neuen Herausforderungen des Innovationsmanagements. Für das Unternehmen im Innenverhältnis bedeutet dies die traditionell bestehende Schnittstellenproblematik zwischen Marketingforschung und F&E erneut auf den Prüfstand zu stellen. Innovationsmanagement muss interdisziplinär sein und kann keine Unterkategorie technologiegetriebener Entwicklung oder rein testender Konsumforschung sein.

    Fußnoten

    [1] Zu den Leitgedanken von Open Innovation und der Integration von Kundenwissen in die Innovationsentwicklung vgl. Chesbrough (2003), Bartl (2009), Reichwald/Piller (2009) und von Hippel (2005).

    [2] Vgl Füller et al. (2006).

    [3] Zur Methodik Netnography vgl. Kozinets (2002), Bartl (2007) und Bartl et al. (2009).

    [4] Unter Consumer Insight wird grundsätzlich ein "frischer" oder "unerwarteter" Einblick in die Bedürfnisse, Wünsche, Probleme, Nöte, Verhaltensweisen etc. von Kunden verstanden. Veröffentlichungen zum Thema stammten in der Regel von Praktikern aus der Werbung, dem Marketing oder der Marktforschung. Eine erste wissenschaftliche Auseinandersetzung zu Consumer Insights unternimmt Föll (2007) im Bereich der Konsumgüterforschung.

    [5] Für Ausführungen zu Consumer Tribes vgl. Cova et al. (2007).

    [6] Die Plattform ist zugänglich unter www.led-emotionalize.com. Durchgeführt 2009.

    [7] Für Ausführungen zum Audi User Design vgl. Bartl (2006).

    Literatur

    Chesbrough, H. (2003): The Era of Open Innovation, MIT Sloan Management Review, Spring 2003, p. 35-41.

    Cova, B., Kozinets, R., Shankar, A. (2007): Consumer Tribes. Amsterdam Butterworth-Heinemann, 2007.

    Dahan, E., Hauser, J. (2002): The Virtual Customer, Journal of Product Innovation Management, 19(5): 332-353.

    Bartl, M. (2006): Virtuelle Kundenintegration in die Neuproduktentwicklung, Gabler Verlag, Wiesbaden.

    Bartl, M. (2007): Netnography - Einblicke in die Welt der Kunden, in Planung und Analyse, 5/2007, S. 83 ff.

    Bartl, M. (2009): Open Innovation! in: Yearbook of Marketing 2009, St. Gallen.

    Bartl M., Hück S., Ruppert S. (2009): Netnography for Innovation. Creating Insights with User Communties. Research World, Issue 12, September 2009.

    Föll, K. (2007): Consumer Insight, DUV Verlag, Wiesbaden.

    Füller J., Bartl M., Ernst H. and Mühlbacher M. (2006): Community Based Innovation: How to Integrate Members of Virtual Communities into New Product Development. Electronic Commerce Research Journal, 6 (1), 57-73. 2006.

    Kozinets, R. (2002): The Field Behind the Screen: Using Netnography for Marketing Research in Online Communications. Journal of Marketing Research 2002, 39 (1), 61-72.

    Prahalad, C., V. Ramaswamy (2004). The Future of Competition: Co-Creating Unique Value with Customers. 2004, Boston, MA: Harvard Business School Press. 256.

    Reichwald, R., Piller, F.(2009): Interaktive Wertschöpfung: Open Innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung, 2. Aufl., Gabler.

    Sawhney, M., Verona, G., Prandelli, E. (2005): Collaborating to Create: The Internet as a Platform for Customer Engagement in Product Innovation, Journal of Interactive Marketing, 19(4): 4-17.

    Thomke, S., von Hippel, E. (2002) Customers as Innovators: A New Way to Create Value, Harvard  Business Review, 80(4), 74-81.

    von Hippel, E. (2005): Democratizing Innovation, Cambridge, MA: MIT Press.

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