Nutzung impliziten Wissens und eine Sichtweise der "Kybernetik zweiter Ordnung" für die Führung komplexer sozialer Systeme: Organisationsaufstellungen

    28. Juli 2004 von Katharina Lehmann, Prof. Dr. Theo Wehner

    Zieldienlicher Umgang mit Komplexität ist heute in aller Munde. Welche Methoden stehen für die Führung komplexer sozialer Systeme zur Verfügung? Was könnte implizites Wissen dazu beitragen? In diesem Artikel wird das Augenmerk auf eine Methode gerichtet, die implizites Wissen und eine Perspektive der "Kybernetik 2. Ordnung" zur Simulation von Führungs- oder Beratungssituationen nutzt und im Organisationskontext noch etwas ungewohnt ist. Es handelt sich dabei um Organisationsaufstellungen, welche derzeit vermehrt Beachtung finden.

    Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift profile 6/2003. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages Edition Humanistische Psychologie

    Heute ist man mehr und mehr der Ansicht, dass eine systemische Sichtweise (Luhmann, 1987; Ashby, 1970) im Umgang mit komplexen Systemen angemessener ist als eine lineare mechanische. Mit Blick auf Globalisierung und zunehmende Vernetzung von politischen, ökonomischen, ökologischen, technischen und sozialen Systemen ist heute der zieldienliche Umgang mit Komplexität die zentrale Aufgabe von Politiker/innen, Management oder Berater/innen. So einleuchtend aber dieser Ansatz und die Forderung nach einer vernetzteren Denkweise auch sein mögen, so schwierig ist es, diese mit Hilfe konkreter Methoden für die Führung komplexer sozialer Systeme nutzbar zu machen. Wie lässt sich eine systemische Sichtweise konkret mit einer Methode beispielsweise in den betrieblichen Alltag übersetzen?

    Methoden aus dem systemischen Ansatz

    Als Basis zur Anwendung von Methoden, die sich auf den systemischen Ansatz stützen, werden in der Regel zuerst mehr oder weniger ausführlich Wirkungsprinzipien in Systemen, wie Holismus, Prozesshaftigkeit, Homöostase, Offenheit lebender Systeme, Rückkoppelung, Zirkularität oder Selbstorganisation beschrieben. Mit dem Ziel, die Denkweise weg vom Detail und hin auf das Ganze, weg von starren Strukturen und hin zu dynamischen sich stetig verändernden Prozessen zu richten (z.B. Ulrich & Probst, 1991; Manteufel & Schiepek, 1998; Kriz, 2000; Malik, 2000; Simon, 2001). Um dem gerecht zu werden, braucht es somit Methoden, die nicht nur einfache Ursachen-Wirkungsketten in Betracht ziehen, sondern wie es Sparrer (2001) beschreibt,

    • mehr Kontexte berücksichtigen,
    • den Interaktionsbegriff vermehrt als Ausgangslage anstelle der Zuschreibung von Eigenschaften verwenden,
    • in höherem Masse Unterschiede anstatt Eigenschaften fokussieren,
    • mehr Perspektiven in Betracht ziehen und
    • die Beobachterperspektive durchgehender nicht als absolut gegeben ansehen

    Nach Sparrer ist das Wort "systemisch" aber nicht als Eigenschaft einer Methode zu verstehen, sondern hängt davon ab, in Bezug auf welche Aspekte etwas systemischer ist als etwas anderes. Es lässt sich somit eher sagen, dass eine Methode systemischer als eine andere angewandt wird und nicht, dass sie an sich systemisch ist. Damit ist sie immer auch abhängig von der Person, welche sie einsetzt.

    Es gibt bereits viele Methoden, die sich auf den systemischen Ansatz abstützen und sich darum bemühen, den oben genannten Punkten gerecht zu werden. Diese Methoden lassen sich zu unterschiedlichen Gruppen zusammenfassen, wobei sicherlich auch andere Klassierungen denkbar wären:

    • Sprachliche und schriftliche Analysen, (z.B. Gomez & Zimmermann, 1997; Gomez & Probst, 1995; Malik, 2000),
    • Computersimulationen, a) fiktive Situationen (z.B. Dörner, 1983, 1995) , b) bezogen auf reale Situationen (z.B. Vester, 2002),
    • Planspiele (z.B. Senge, 2001),
    • Kombinierte Trainingsprogramme, (z.B. Manteufel & Schiepek, 1998 und Kriz, 2000).

    Gemeinsam ist diesen Methoden, dass sie alle mit dem vorwiegend expliziten Wissen [1] von Führungskräften oder Beraterinnen und Beratern arbeiten. Da jedoch bekannt ist, dass gerade in komplexen Situationen auf implizites Wissen zurückgegriffen wird, könnte es hilfreich sein, auch dieses Wissen zu nutzen (Büssing et al., 2002). Implizites Wissen ist in der Regel weder von Aufmerksamkeit noch von bewusstem Lernen abhängig und wird unterhalb einer subjektiven Schwelle wirksam (Dienes & Berry, 1997). Es braucht deshalb Methoden, welche dieses Wissen explizieren können, damit erkannt werden kann, wodurch die eigenen Handlungen und Entscheide auch noch geleitet werden (Derboven, Dick & Wehner, 2002; Waibel, Dick & Wehner, in print, Dick & Wehner, 2002).

    Welche Methoden der oben aufgelisteten Gruppen nun aber systemischer sind als andere, hängt zu einem grossen Teil davon ab, wie sie durchgeführt werden. Wir gehen zusätzlich aber davon aus, dass eine Methode auch an sich zu einem systemischeren Vorgehen anregen kann und nicht nur durch das Vorgehen allein systemischer wird.

    Betrachtet man beispielsweise die Methode des Navigationssystems zur Steuerung eines Unternehmens (Malik, 2000), welche der Gruppe der sprachlichen und schriftlichen Analyse zugeteilt werden kann, führt diese Methode zu einem Einbeziehen mehrerer Kontexte. Begonnen wird dabei auf der untersten Stufe mit der Liquidität als überlebensrelevante Steuerungsgrösse. Mit Hilfe der Liquidität wird aber nur ein sehr kurzer Horizont überblickt. Um den Steuerungshorizont in die Zukunft zu erweitern, wird der Fokus auf den betriebswirtschaftlichen Erfolg ausgeweitet. Damit aber ein noch grösserer Zeitraum erschlossen werden kann, muss man sich auf die nächst höhere Steuerungsebene begeben und gelangt zu den bestehenden Erfolgspotenzialen, welche durch verschiedene Grössen bestimmt werden können. Danach gilt es auch noch, die zukünftigen Erfolgspotenziale zu erschliessen, um ein möglichst umfassendes Steuerungssystem zu erhalten.

    Damit werden durch diese Methode mehr Kontexte berücksichtigt und Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Steuerungsebenen einbezogen.

    Werden nun bei der Entwicklung eines Navigationssystems auch noch Personen aus verschiedenen Abteilungen eines Unternehmens einbezogen, ergeben sich zusätzlich unterschiedliche Perspektiven, welche die Methode noch systemischer machen. Und gehen diese Personen dann noch davon aus, dass sie jeweils eine subjektive Beschreibung, geprägt durch ihre eigene spezifische Wahrnehmung vornehmen, die dazu führt auch die Beobachterperspektive nicht als absolut gegeben zu betrachten, nähert man sich bereits einer Sichtweise der "Kybernetik zweiter Ordnung". Diese geht im Gegensatz zu einer Sichtweise der "Kybernetik erster Ordnung" davon aus, dass das Subjekt nicht mehr vom Gegenstand der Betrachtung getrennt ist.

    Die subjektiven Weltbilder und Wahrnehmungen von Führungskräften und Personen, die es mit Organisationen zu tun haben, werden als Einflussgrösse mitbeachtet. Bei einer Sichtweise der "Kybernetik erster Ordnung" wird noch auf eine vermutete unabhängige Welt "da draussen" verwiesen, wie sie funktioniert und sich verhält. Bei einer Beschreibung der "Kybernetik zweiter Ordnung" gerät man selbst in eine Schleife, die einen mit dem jeweiligen Gegenstand der Betrachtung verbindet (v. Foerster, 2001). Man denkt sich dadurch bei der Führung eines Unternehmens immer mit. Es stellt sich somit die Frage, wie menschliche Erkenntnis kybernetisch organisiert ist und es wird bestritten, dass Systeme unabhängig von dem/ der Betrachter/in existieren (Glasersfeld, 1997).

    Führungskräfte oder Beratende sollten also immer auch als Teil des gesamten Kontextes betrachtet werden mit ihren ganz spezifischen Erkenntnismöglichkeiten. Dabei geht es nicht mehr darum, ein System von aussen zu betrachten, sondern darum, die kybernetischen Prinzipien auch auf die Kybernetik, auf die Steuerung selbst, zu beziehen (v. Schlippe & Schweitzer, 1998).

    Je nach Anwendung können Methoden aus dem systemischen Ansatz somit systemischer oder weniger systemisch sein und sich z.B. entweder eher nach einer "Kybernetik erster Ordnung" oder "zweiten Ordnung" richten. Und es gibt Methoden, die darauf angelegt sind, sich vermehrt mit den impliziten System-Abbildern von Führungskräften und Beratern auseinander zu setzen und dadurch eine Perspektive der "Kybernetik zweiter Ordnung" begünstigen, da sie von den subjektiven Wahrnehmungen ausgehen und dies als relevante Grösse beim Führen einer Organisation nutzen.

    Mit solchen Methoden wird im Organisationskontext noch nicht häufig gearbeitet. Eine Methode aber wird heute in der Praxis zunehmend häufiger eingesetzt: Es handelt sich dabei um Organisationsaufstellungen.

    Organisationsaufstellungen

    Die Aufstellungsmethode (s. Kasten) ist, wenn überhaupt, eher als Familienaufstellung bekannt und wird vor allem mit der Person Bert Hellingers (z.B. 1994) in Verbindung gebracht. Dadurch wird sie primär mit einem therapeutischen Hintergrund assoziiert. Damit Aufstellungen besser in einen Organisationskontext passen, wird die Begrifflichkeit in nächster Zeit noch vermehrt auf diesen Bereich angepasst werden müssen.

    Was ist eine Aufstellung?
    Die Aufstellung ist eine Methode, deren Wurzeln u.a. auf das Psychodrama, Familienrekonstruktionen nach Satir oder die Gestalttherapie zurückgehen. Bekannt wurde die Methode aber vor allem durch die Familienaufstellungen nach Hellinger, woraus sich die Organisationsaufstellungen entwickelt haben. Das Vorgehen ist bei beiden Arten von Aufstellungen sehr ähnlich. In einem Gruppensetting wird die Familie oder ein Unternehmen durch Stellvertretende im Raum dargestellt. Vorzugsweise werden die Familienmitglieder oder die Personen aus dem Unternehmen durch Personen vertreten, welche mit der Familien oder dem Betrieb nichts zu tun haben. Dies gewährleistet mehr Freiheit im Äussern der Wahrnehmungen, da man keine Loyalitäten im Hinblick auf das aufgestellte System hat. Nachdem die Person, welche eine Aufstellung macht, die Stellvertretenden im Raum aufgestellt hat und dadurch ihr implizites Abbild des Systems expliziert wird, beginnt die Arbeit mit den Stellvertretenden und die Person kann von aussen zuschauen. Durch Umstellen der Repräsentanten, sprachliche Interaktionen und Austesten von Hypothesen können mögliche Lösungsschritte simuliert werden (Weber, 2000).
    Obwohl sich das Vorgehen von Familien- und Organisationsaufstellungen gleicht, gibt es zentrale Unterschiede:

    Familienaufstellungen

    • Zugehörigkeit zur Familie ist unbegrenzt
    • Einmaligkeit eines Familienmitglieds
    • Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern ist durch die zeitliche Reihenfolge vorgegeben


    (Varga v. Kibéd, 2000)

    Organisationsaufstellungen

    • Zugehörigkeit zum Betrieb ist vertraglich begrenzt
    • Partielle Austauschbarkeit der Mitarbeitenden
    • Hierarchien beziehen sich auf Funktionen
    • Definierte Aufgabe und vorgegebenes Ziel


    (Varga v. Kibéd, 2000)

    Organisationsaufstellungen finden in der Regel in Gruppen statt, wobei die Teilnehmenden vorzugsweise nicht aus dem gleichen Unternehmen oder zumindest nicht aus der gleichen Abteilung stammen. Dies gewährleistet eine grössere Unvoreingenommenheit beim Repräsentieren der einzelnen Rollen. Bei einer Aufstellung kann es sich um ganz unterschiedliche Problemstellungen handeln, wie beispielsweise um

    • Nachfolgeregelungen in Familienunternehmen,
    • Konflikte im Betrieb,
    • hohe Fluktuationen und Absenzen,
    • Schwierigkeiten bei der Positionierung eines neuen Produkts oder
    • um sinkenden Umsatz

    Vermehrt werden Aufstellungen auch bei Fragen im strategischen Bereich eingesetzt.

    Die Person, welche eine Aufstellung macht, wählt jeweils im Hinblick auf eine Fragestellung Repräsentanten und Repräsentantinnen für die einzelnen Rollen aus, z.B. für den Verwaltungsrat, die Chefin, die Kollegen oder den Abteilungsleiter und sehr wichtig, auch für sich selbst. Danach stellt diese Person die ausgewählten Stellvertretenden im Raum auf, so wie es ihrem eigenen inneren Bild vom Betrieb entspricht. Das Aufstellen wird spontan, ohne grosse Überlegungen gemacht. Einige Repräsentantinnen und Repräsentanten werden dann beispielsweise so hingestellt, dass sie sich anschauen können, andere stehen weit entfernt oder werden von den anderen weggedreht, ganz wie es dem eigenen Empfinden entspricht. Einflussgrössen sind dabei Nähe und Distanz, die Blickrichtung und der Winkel wie die Personen zueinander stehen.

    Das ergibt beispielsweise eine Konstellation, wie sie in der folgenden Abbildung1 dargestellt ist. Bei dieser Aufstellung geht es um ein mittelgrosses Unternehmen, dessen Geschäftsführer die Auswirkungen einer strategischen Neuausrichtung überprüfen will. Man will sich vermehrt auf den internationalen Markt ausrichten und dabei ein Produkt in den Vordergrund stellen. In der Geschäftsleitung gibt es aber mittlerweile von zwei Mitgliedern erheblichen Widerstand gegen die neue Strategie. Der Geschäftsführer möchte durch eine Aufstellung mehr Informationen, wie er damit umgehen soll.

    Nachdem er alle Stellvertretenden, wie in Abbildung 1 dargestellt, nach seinem inneren Bild aufgestellt hat, kann er sich wieder hinsetzen und von aussen sein Abbild der Situation betrachten.

    Die Auswahl der Systemelemente richtet sich dabei in der Regel nach der Fragestellung. Dabei können auch abstrakte Elemente wie die strategische Neuausrichtung zu Personen in Beziehung gesetzt werden.

    Abbildung 1

    Abb.1: Explizierte implizite Systemkonstellation eines Geschäftsführers

    Die Systemkonstellation in Abbildung 1 verdeutlicht, wie weit oder nah die einzelnen Repräsentanten stehen, wohin ihr Blick geht und in welchem Winkel sie zueinander stehen. Hier fällt beispielsweise auf, dass der GF, MGL1 und MGL3 die strategische Neuausrichtung nicht im Blick haben.

    Durch das Aufstellen der Repräsentanten und Repräsentantinnen wird das subjektive implizite Wissen, die implizit wahrgenommene Konstellation eines Betriebs, vergegenständlicht. Dieser Vorgang dauert in der Regel nicht länger als zwei bis drei Minuten. Diese sind jedoch entscheidend, denn durch Explikation des impliziten Systemwissens wird die Basis für ein subjektiv lebensnah wahrgenommenes Simulationsmodell geschaffen. Damit ist auch die Grundlage für eine Perspektive der "Kybernetik zweiter Ordnung" gelegt. Denn es wird jeweils nur mit dem subjektiven Bild von Führungskräften oder sonstigen Personen, die eine Aufstellung machen, gearbeitet. Ob die Methode aber dann systemischer ist als eine andere, hängt wiederum von denen ab, die sie anwenden: die Aufstellerinnen und Aufsteller können die aufgestellte Systemkonstellation für ein mögliches Abbild des Unternehmens nehmen, das auch von ihren spezifischen Wahrnehmungen beeinflusst wird, oder sie gehen davon aus, dass es "die einzige Wahrheit" ist [2].

    Nachdem die Stellvertretenden aufgestellt worden sind, dient diese explizierte Konstellation als Ausgangslage und die Repräsentanten und Repräsentantinnen können miteinander in Beziehung treten. Die Aufstellungsleiterin oder der Aufstellungsleiter befragt alle nach ihren Wahrnehmungen, welche sie auf ihren Positionen haben, was sich verändert hat, seit sie an ihren zugewiesenen Plätzen stehen und wohin ihr Blick geht. An diesem Punkt kommt nun noch eine andere Ebene ins Spiel. Es geht dabei um das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung (Sparrer & Varga v. Kibéd, 2000), um die Fähigkeit der Repräsentanten und Repräsentantinnen stellvertretend Gleiches oder Ähnliches wahrzunehmen; wie man die Personen im Unternehmen selbst erlebt. Im Hinblick auf ihre Wahrnehmungen können die Stellvertretenden sagen, in welcher Konstellation, bezogen auf eine bestimmte Fragestellung, es ihnen besser oder schlechter geht. Dies ist ein Phänomen, welches im Moment noch nicht wissenschaftlich erklärt werden kann.

    Durch die Wahrnehmungen der Stellvertretenden können mögliche Perspektiven, Kontexte und Interaktionen zwischen Personen oder Abteilungen deutlich werden. Dies zeigte beispielsweise dem Geschäftsführer auf, dass er die Abteilungen von zwei Geschäftsleitungsmitgliedern (in Abb.1 GML 1 und GLM 3) nicht genügend bei seiner Neuausrichtung beachtet hatte, was ihm Hinweise auf deren Widerstand gab. An einem lebenden Modell der Organisation kann durch Umstellen der Stellvertretenden und deren Reaktionen auf mögliche Lösungsversuche, ausgetestet werden, welche Schritte hilfreich und noch notwendig sind.

    Der Geschäftsführer erkannte dadurch, dass er die Abteilungen der GL-Mitglieder 1 und 3 sehr eng bei der Neuorientierung einbinden musste, um das andere Produkt auf dem internationalen Markt abstützen zu können. Durch die Simulation von Lösungen kommt man dadurch zu Hypothesen, welche im Unternehmen neue Wege eröffnen können. Erfahrungsberichte (Weber, 2000) deuten darauf hin, dass die explizierte System-konstellation ziemlich genau mit dem übereinstimmt, was man auch im Betrieb erlebt. Häufig kommentieren die Personen jedoch, dass das, was man in der Aufstellung sieht zwar vertraut ist, aber man es so nicht hätte beschreiben können.

    Durch die ähnlichen Wahrnehmungen und Interaktionen zwischen den Stellvertretenden scheint sich ausserdem im Verlauf der Aufstellung durch die Interaktionen zwischen den Stellvertretenden eine ähnliche Selbstorganisation zu entwickeln, wie man sie vor Ort im Betrieb erlebt. Dies erlaubt, Neben- und Fernwirkungen im Unternehmen besser abzuschätzen. Und da das innere Bild vom Unternehmen in der alltäglichen Interaktion mit anderen Führungskräften und Mitarbeitenden konstruiert wird, sieht die Dynamik der Aufstellung oft auch bei verschiedenen Personen aus dem gleichen Unternehmen ähnlich aus. Dies zeichnete sich auch in einer wissenschaftlichen Untersuchung von Ruppert (2000) ab.

    Stand der Forschung

    Die Anwendung von Organisationsaufstellungen ist noch sehr neu und auch ungewohnt. Es gibt deshalb bis heute nur sehr wenige Untersuchungen zu Aufstellungen überhaupt und im speziellen im Organisationskontext (Ruppert, 2000; Schumacher, 2000).

    1. Forschungsarbeiten: Im Rahmen einer Studie zum Thema Determinanten der Sicherheits- und Gesundheitskultur in Organisationen untersuchte beispielsweise Ruppert (2000) mit Hilfe von Aufstellungen die Positionen und Beziehungen von Sicherheitskräften im Betrieb im Hinblick auf die Unfall- und Krankenstandsquote.
      Auch im Bereich der Familienaufstellungen gibt es erst wenige wissenschaftliche Arbeiten. Franke (1996) untersuchte beispielsweise im Rahmen einer Dissertation Einzelaufstellungen im Hinblick auf Verstrickungen (problematische Dynamiken im System) und unterbrochene Hinbewegung zur Mutter im Kleinkindalter bei Angstpatienten. Höppner (1998) konnte in einer umfassenden Dissertation zeigen, dass sich das eigene Selbstbild nach einer Aufstellung signifikant verbesserte. Und Schumacher (2000) zeigte in einer Lizentiatsarbeit, dass sich durch eine Familienaufstellung nicht nur die inneren Abbilder von der Familie sondern auch vom Betrieb, in dem man arbeitet, positiv veränderten.
    2. Laufende Forschungsarbeiten und Forschungsgruppen: Neben mehreren Lizentiatsarbeiten zur Wirkung von Organisationsaufstellungen an der TU Harburg [3] sind Dissertationen zu Aufstellungen an der Universität Innsbruck [4] und an der ETH Zürich in Vorbereitung [5]. Ausserdem gibt es in der Schweiz zum Thema Aufstellungen eine Forschungsgruppe in St. Gallen [6] und eine in Zürich im Zusammenhang mit der Dissertation an der ETH.

    Dem gegenüber stehen aber viele Erfahrungsberichte (z.B. Weber, 2000; Erb, 2001; Grochowiak & Castella, 2001), die darauf hindeuten, dass es interessant sein könnte, Aufstellungen noch weiter zu verwissenschaftlichen.

    In einer Dissertation am Institut für Arbeitspsychologie der ETH Zürich (Lehmann, 2003 in Vorbereitung) wird nun untersucht, ob Aufstellungen eine systemischere Lösung von komplexen Fragestellungen ermöglichen und dadurch den Umgang mit komplexen sozialen Systemen erleichtern könnten.

    Dabei stellt sich die Frage, wie sich eine solche Methode überhaupt verwissenschaftlichen lässt. Geht man dabei beispielsweise vor wie Ruppert (2000), der ein eher quantitatives Design gewählt hat, oder wie Schumacher (2000), der mit einem semantischen Differential zeigte, wie sich das Bild von Familie und Organisation durch eine Aufstellung zum Positiven verändert und zusätzlich mit Fragebogen untersuchte, ob sich eine Aufstellung auch auf das Kooperationsverhalten am Arbeitsplatz auswirkt, oder wie Höppner (2001), der mit Fragebogen untersuchte, ob sich das eigene Selbstbild nach einer Aufstellung verbessert, wobei er vorgängig den FAST (Gehring, 1998) einsetzte, der jedoch keinen Einfluss auf das Selbstbild hatte.

    Setzt man nun Fragebogen ein, um subjektive Veränderungen nach einer Aufstellung im Hinblick auf den Umgang mit einer komplexen Fragestellung untersuchen zu können, wird man jeweils das Problem haben, dass sich die Resultate ebenso gut auf die Einstellung gegenüber Aufstellungen beziehen können und weniger darauf, ob und wie dadurch der Umgang in der Praxis erleichtert wird. Würde man andererseits implizites Wissen im Hinblick auf eine bestimmte Fragestellung beispielsweise mit Kelly Grids (Kelly, 1955; Riemann, 1991) vor einer Aufstellung explizieren und dann nach einer Aufstellung überprüfen, welche Veränderungen sich zeigen, müsste man wahrscheinlich von einer Konfundierung der beiden Methoden ausgehen, da sich dadurch das Ausgangbild bei einer Aufstellung bereits verändern könnte. Eine andere Möglichkeit wären Einzelfallstudien, bei denen man sich Veränderungen im Detail anschaut und allenfalls auch Personen befragen könnte, die nicht an einer Aufstellung teilgenommen haben. Die Frage nach einem Design, welches auch der Komplexität dieser Methode entspricht, ist in dem Sinne noch nicht abschliessend gelöst.

    Fussnoten

    [1] Einvollständig explizites Wissen jedoch wäre ein Wissen um Symbole, die gar nicht als solche erkannt werden. Bedeutung bekommen Symbole erst durch eine Person, die sie versteht und wahrnimmt. Damit ist jedes explizite Wissen ohnehin an die implizite Dimension geknüpft (Neuweg, 1999).

    [2] Sparrer (2001) geht davon aus, dass ihr Vorgehen und das von Varga v. Kibéd (Varga v. Kibéd & Sparrer, 2000) systemischer ist als das Vorgehen bei den Familienaufstellungen nach Bert Hellinger, weil sie die Aussagen der Repräsentanten nicht für absolute Werte und Wahrheiten nehmen, sondern eher auf Unterschiede im Hinblick auf Veränderungen während einer Aufstellung achten.

    [3] TU Hamburg-Harburg, PD Dr. Ch. Kumbruck

    [4] Christoph Binder, Universität Innsbruck

    [5] Katharina Lehmann, ETH Zürich, Institut für Arbeitspsychologie bei Prof. Dr. Th. Wehner

    [6] Forschungsgruppe unter der Leitung von Prof. Dr. J. Rüegg-Stürm und Dr. Th. Schumacher

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