Knowledge Management revisited - Entwicklungslinien eines Managementkonzeptes mit Sonderkonjunktur

    07. November 2000 von Dr. Oliver Vopel

    Ohne Zweifel: Wissen und Expertise sind die zentralen Treiber moderner Wertschöpfung. In fast allen größeren Unternehmen gibt es inzwischen Initiativen oder Abteilungen, die sich mit dem Management dieser wertvollen Ressourcen befassen. Unumstritten sind diese Maßnahmen jedoch nicht, denn trotz hoher Investitionen lassen sich die erwarteten Erfolge häufig nicht direkt beobachten. Bei Ernst & Young gehört Knowledge Management seit 1993 zur Firmenstrategie - Bedeutung und Erfolgsfaktoren des Wissensmanagements im Lichte dieser Erfahrung sind Gegenstand des folgenden Beitrags.

    Nur Zweitligisten können es sich heute noch leisten, die Bedeutung von Wissen für den geschäftlichen Erfolg zu ignorieren. In einer zunehmend global strukturierten Arbeitswelt kommt es immer stärker darauf an, einen Wissenswettbewerb gegen die Konkurrenz zu gewinnen. Allerdings ist Wissen nicht gleich Wissen. Entsprechend weist Wissensmanagement auch ganz unterschiedliche Formen auf. Je nach Branche kann der Kern eines Managements von Wissen insbesondere in der Kunst bestehen, eine große Masse an elektronisch verfügbaren Daten über den Markt- und Kundenbedarf zu entscheidungsrelevanten Erwartungen zu verdichten, oder es geht eher darum, das in der Organisation vorhandene Expertenwissen optimal zu entwickeln und intelligent zu kombinieren.

    Wenn aus Informationen Wissen wird

    Im ersten Fall, der im sogenannten eBusiness von besonderer Bedeutung ist, generieren die Unternehmen das relevante Wissen aus Kundenprofilen, -historien und -kontakten, aus Bestellinformationen, Reklamationen und anderen, routinemäßig anfallenden Daten. Die zunehmend elektronisch gelagerten Geschäftsverbindungen liefern dem Anbieter wertvolles Wissen gleichsam frei Haus. Das durch Filtern und Schlussfolgern gewonnene Wissen ermöglicht Produktentwicklungen, die bestimmte Erwartungen der Kunden antizipieren. Auf diese Weise fällt eine kontinuierliche und schnelle Anpassung der Leistungsmerkmale an Kundenbedürfnisse relativ leicht. Die innovationsfreudigsten Unternehmen identifizieren auf diesem Weg sogar vor anderen neue Geschäftsfelder.

    Wissensmanagement in wissensintensiven Branchen

    Sehr viel anspruchsvoller gestaltet sich das Wissensmanagement im zweiten, hier interessierenden Fall. Dann nämlich, wenn Wissen nicht nur Ressource, sondern auch Produkt eines Unternehmens ist. In ganz besonderem Maße gilt dies für wissensintensive Branchen wie Prüfungs- und Beratungsdienstleistungen, Finanzdienstleistungen, Softwareentwicklung sowie High-Tech- und Pharmaindustrie. Wer in einem derartigen Wettbewerbsumfeld den Zuschlag beim Kunden erhalten will, der muss qualitativ hochwertigeres Wissen in kürzerer Zeit und zu günstigeren Konditionen als der Konkurrent anbieten. Und er muss über immer mehr "kundennahes" Wissen verfügen.

    Wie generiert man überlegene Expertise? Wo ist dieses Wissen zu finden? Zu einem großen Teil steckt dieses Wissen in den Köpfen der Experten. Es steckt aber auch in den Standardabläufen, Datenbanken und Routinen des Unternehmens und ist insofern Organisationswissen. Die Kunst der Wissensorganisation besteht einerseits darin, das relevante individuelle Wissen in Organisationswissen zu überführen, andererseits aber dafür zu sorgen, dass überlegenes Wissen auch unternehmensweit zur Verfügung steht und genutzt wird.

    Strategische Ziele und Rahmenbedingungen von KM bei Ernst & Young

    Die strategischen Zielsetzungen von Knowledge Management Projekten lesen sich auf der Ebene der Business Pläne in Professional Service Firms immer ähnlich:

    • Vermeidung von Doppelspurigkeiten bei der Wissensproduktion
    • Qualitätssteigerung der Produkte durch intelligente Kombination des Wissens
    • Geschwindigkeitssteigerungen beim Service Delivery-Prozeß
    • Risikominderung durch besseres Wissen etc.

    Bei Ernst & Young stellte eine Erreichung solcher Ziele angesichts der internen und externen Rahmenbedingungen eine ganz besondere Herausforderung dar:

    • 95.000 Mitarbeiter in allen Zeitzonen der Welt
      (Vor dem Zusammenschluß von Ernst & Young Consulting mit Cap Gemini im Juni 2000)
    • fünf große Business Lines (Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung, Unternehmensberatung, Corporate Finance und Rechtsberatung) mit rund einhundert Service Lines, die ein gewisses Eigenleben führen (müssen!)
    • ständiger Wandel der Marktbedingungen
    • Mitarbeiter meistens beim Klienten und selten im Büro
    • permanter Mitarbeiterzuwachs bei branchenüblichem Turnover

    Wenn der vielbeschworene Informationsaustausch in der Teeküche für komplexe Organisationen je ausgereicht hat - hier genügte heißes Wasser nicht mehr.

    Rollen, Prozesse und Technologie - bitte in dieser Reihenfolge!

    Während die gemeinsame Entwicklung und Nutzung von Wissen in kleineren Arbeitsgruppen auch selbstorganisiert sehr erfolgreich ablaufen kann, so gehen mit wachsender Zielgruppe auch steigende Anforderungen an die Komplexität der organisatorischen und technologischen Infrastruktur einher. Rollen und Prozesse müssen definiert werden, auf KM bezogene Arbeitszeit muss budgetiert werden und die entsprechenden technologischen Voraussetzungen geschaffen werden.

    Ernst & Young gründete 1993 das Center for Business Knowledge (CBK), das als interner Dienstleister mit heute weltweit rund 600 Mitarbeitern für die KM-Prozesse und -Infrastruktur zuständig ist. Rund die Hälfte der weltweit verteilten CBK-Mitarbeiter ist mit der Beschaffung und Aufbereitung externer Informationen befaßt. Die andere Hälfte berät die internen Kunden (also die diversen Business und Service Lines) in allen Fragen der KM-Prozesse, entwickelt die KM-Technologie fort, führt Awareness-Kampagnen und KM-Trainings durch. Zum dritten Mal in Folge hat Ernst & Young im Jahr 2000 einen MAKE Award (Most Admired Knowledge Enterprise) gewonnen und nimt damit im Hinblick auf professionelles Wissensmanagement international eine Spitzenposition ein.

    Wichtige Meilensteine der Entwicklung waren die Einführung einer firmenweiten Taxonomie, die das gezielte Auffinden von Wissen erleichtert und der Aufbau des EY KnowledgeWebs, das den Zugriff auf rund 600 internationale EY-Wissensdatenbanken und auf eine Vielzahl externer Informationsprovider wie z.B. Genios, Forrester Research oder OneSource gestattet. Über eine eingebaute SearchEngine können per Volltextsuche Präsentationen, Proposals, Marktübersichten etc. aus einem Bestand von rund 1,2 Millionen unternehmenseigenen Dokumenten gesucht werden. Nicht zuletzt hat der massive Aufbau nationaler und globaler Expertennetzwerke dazu geführt, daß Ernst & Young in der Entwicklung und Nutzung von Expertise eine Vorreiterposition inne hat. Neuester Entwicklungstrend sind die sogenannten Community HomeSpaces: Dabei handelt es sich um webbasierte Portale im Ernst & Young Intranet, die eine schnelle Navigation zu den relevanten Inhalten einer Wissensgemeinschaft (Dokumente, Links, Diskussionsforen, Ansprechpartner etc.) erlaubt (siehe Screenshot).

    Abbildung 1: Screenshot eines Ernst & Young Community HomeSpaces (im konkreten Fall der SAP Service Line). Die Navigatorstruktur auf der linken Bildseite ist standardisiert, die dahinter liegenden Inhalte sind vom jeweiligen Bereich frei definierbar. Hervorzuheben ist insbesondere die Knowledge-Kategorie. Dahinter liegt ein GUI (Guided User Interface), der die strategischen Wissensbereiche und die Prozesse der jeweiligen Community graphisch abbildet und so einen intuitiven Zugriff auf Wissen und Information erlaubt, der zugleich eng am Geschäftsprozess ausrichtet ist.

    Effekte und Nutzenmessung

    Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, wie schwierig das "Ausrechnen" des Nutzens von KM-Projekten ist. Das liegt einerseits an den damit zusammenhängenden Zurechnungsproblemen (geht ein gewonnener Auftrag auf die gute Informationsbasis oder das Geschick des Beraters zurück?) und andererseits am Fehlen einer Metrik des Wissens an sich (welchen Wert ein Wissen besitzt, weiß man immer erst hinterher - wir denken etwa an Währungsprognosen oder Patente).

    Knowledge Management Projekte sind in 90% der Fälle strategische Projekte, über die nicht mit der klassischen Investionsrechnung entschieden werden kann und deren Nutzen sich auch nicht eins zu eins ermitteln läßt. Bei Ernst & Young wird die Tragfähigkeit des Knowledge Managements auf drei Ebenen ermittelt.

    • Fester Bestandteil des Measurements sind regelmäßige globale Surveys, die eine Zufallsauswahl von Mitarbeitern nach Bekanntheit, Nutzung und Wert der Knowledge Tools und Ressourcen fragen. Diese Ergebnisse werden nach Ländern und Business Lines ausgewertet.
    • Daneben wird die Nutzung der Wissensdatenbanken "hart" ermittelt, d. h. es werden schlicht die Zugriffszahlen gemessen, die dann als Leuchtfeuer für Handlungsbedarf dienen können.
    • Die dritte Ebene wird schließlich durch das gebildet, was man in der Geschichtswissenschaft als "Oral History" bezeichnet: Ernst & Young versucht, aus Success Storys und sonstigem mündlich oder schriftlich eingehendem Feedback Rückschlüsse auf den Nutzen von KM und auf Verbesserungspotentiale zu ziehen.

    Komplexität als Problem und Lösung

    Bei alledem darf eine Analyse nicht übersehen, dass Knowledge Management im Kern das Paradox moderner Organisationen bearbeitet und hier dürfte auf einer abstrakten Ebene auch der eigentliche Nutzwert dieses Konzeptes liegen: es sucht die Balance zwischen Transparenz und Komplexität.

    Die mit dem Information Overload einhergehende Komplexität wurde von der Betriebswirtschaftslehre schon frühzeitig als Problem identifiziert und in der Tat kann Knowledge Management mit Hilfe von Softwaretools und Prozessstrukturen das Universum für den einzelnen Mitarbeiter auf ein für ihn handhabbares Maß begrenzen. Es geht also um Komplexitätsreduktion, ein Wort, das vom 1998 verstorbenen Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann geprägt wurde. Wer nun glaubt, dass sich der Sinn von KM-Projekten in der Reduktion von Wissen auf das "Notwendige" erschöpft, der verpasst allerdings die Pointe. Denn die andere Seite des Wissensmanagements besteht gerade darin, Komplexität aufzubauen, indem neue Verknüpfungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter und zwischen den Mitarbeitern erzeugt werden.

    Der potentielle Zugriff auf hunderttausende von Personenprofilen, Präsentationen, Studien, Spreadsheets etc. dient dem Umgang mit Unsicherheit durch ein Vorbereiten auf Gelegenheiten, von denen niemand sagen kann, ob sie jemals eintreten. Die Organisation erweitert aber ihren Möglichkeitsraum dramatisch und stellt sich so auf eine unsichere Zukunft ein, in der Risiken immer auch Chancen sind.

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