Die Zukunft der Bibliotheken

    Traditionelle versus neue Formen der Dokument- und Wissensorganisation

    01. September 2011 von Prof. Dr. Stefan Gradmann

    Im Zuge der mit dem Aufbau des ‚Semantic Web’ einher gehenden grundlegenden Umbrüche verändert sich auch die Rolle der Bibliotheken im Wissenschaftsbetrieb grundlegend: denkbar ist eine zunehmend ‚museale’ Position ebenso wie auch eine innovative Rolle als Werkstatt für Wissensgenerierung.

    Will man über die zukünftige Rolle von wissenschaftlichen Bibliotheken Aufschluss gewinnen, so ist es sinnvoll, sich allererst deren bisherige Rolle vor Augen zu führen und die spezifischen Rahmenbedingungen in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu reflektieren, die Garanten dieser Rolle waren und teilweise noch sind.

    Zumindest in den hermeneutisch geprägten Geisteswissenschaften waren die Bibliotheken über Jahrhunderte akademische Leitinstitutionen, denn sie beherbergten die Elementarbausteine der Wissensproduktion: die gedruckten Bücher und Zeitschriften. Solange der Zugang zu Büchern und deren Interpretation und Re-Aggregation zu neuen Wissenseinheiten die unangefochtene Kernaktivität geisteswissenschaftlichen Forschens war, waren auch Bibliotheken mit ihren Beständen und ihren Formen der Bestandsvermittlung konkurrenzlos.

    Bibliotheken waren dabei Hüter von weitgehend monolithisch gedachten und im Kern linear organisierten Dokumentobjekten, um die herum ein ebenfalls weitgehend linear konzipierter Kreislauf mit den in der folgenden Abbildung dargestellten typischen Stationen:

    Abbildung 1: Traditionelles Wissenskontinuum

    Abbildung 1: Traditionelles Wissenskontinuum

    Mit dem Einzug der Datenverarbeitung auch in den Wissenschaftsbereich wurde dieser Kosmos anfangs eigentlich unverändert belassen und gewissermaßen in den Emulationsmodus versetzt: das schlicht elektrifizierte Wissenskontinuum kreiste nunmehr um Druck-analoge Dokumentmonolithen im PDF-Format – und damit behielten auch die Bibliotheken ihre wissenschaftskonstitutive Position. Dies ist in der folgenden Abbildung dargestellt:

    Abbildung 2: Wissenskontinuum im Emulationsmodus

    Abbildung 2: Wissenskontinuum im Emulationsmodus

    Die war auch im Kontext der ersten nunmehr klar erkennbaren qualitativen Veränderungen noch weitestgehend der Fall: auch der Übergang zu genuin digitalen Publikationsformaten oder zu Techniken der digitalen Annotation (wie in Abbildung 3 dargestellt) haben Position und Funktionsweise von Bibliotheken noch nicht wirklich in Frage gestellt.

    Abbildung 3: Das Wissenskontinuum wird digital

    Abbildung 3: Das Wissenskontinuum wird digital

    Dies ändert sich grundlegend mit den nunmehr ansatzweise erkennbaren und in Abbildung 4 dargestellten Veränderungsprozessen, in denen drei fundamentale Umbrüche erkennbar sind:

    • Die bis dahin konstitutive Prägung des Wissenskontinuums durch altbekannte Kulturtechniken (Lesen und Schreiben) schwindet rapide.
    • Die bislang für das Wissenskontinuum ebenso maßgebliche zirkulär-lineare Verfasstheit wird zunehmen zugunsten netzartiger Verbindungen zwischen nahezu allen Stationen dieses Kontinuums aufgebrochen (so dass etwa Rezeption schon vor der eigentlichen ‚Veröffentlichung’ einsetzt oder Begutachtungsprozesse zunehmend als (teil-)öffentliche Annotationsverfahren gestaltet werden.
    • Vor allem aber beginnt das monolithische Dokumentobjekt im Zentrum des Wissenskosmos sich zunehmend in atomare Einheiten aufzulösen, die in Gestalt der RDF-Tripel des ‚Semantic Web’ fast beliebig zu unterschiedlichen Dokumentaggregationen rekonfigurierbar sind.

    Abb.4 Wissenskontinuum im Umbruch

    Abb.4 Wissenskontinuum im Umbruch

    Damit geht den Bibliotheken perspektivisch das abhanden, was als βιβΛιον gerade ihre (nicht nur) etymologische Identität konstituierte. In der Folge verlieren auch Kernvokabeln wie ‚Katalog’, ‚Bestand’ und ‚Sammlung’ rapide an Bedeutung. Bibliotheken werden damit Teil des semantischen Netzes der ‚Linked Open Data’.

    Und zugleich beginnen auch die lange Zeit extrem buchgeprägten Geisteswissenschaften neue, genuin digital geprägte Arbeitsmethoden und Heuristiken zu entwickeln und sind damit perspektivisch immer weniger auf die Bibliothek als Büchersammlung fixiert.

    Wenn es den Bibliotheken nicht gelingt, mit diesen Veränderungsprozessen konstruktiv umzugehen werden sie zunehmend in eine im schlechten Wortsinn museale Existenz regredieren.

    Wenn es ihnen aber gelingt, um die Informationsressourcen des ‚Semantischen’ Netzes Angebote zur Kontextualisierung als Teil des Netzes der ‚Linked Open Data’ zu machen, die von Wissenschaftlern als Instrumente der Wissensgenerierung und als Teile digitaler Heuristiken angenommen werden haben sie eine große Zukunft: nicht mehr als Informations-Mediatoren, sondern als Werkstätten der Wissensgenerierung.

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